Mythen des Ukraine-Kriegs. Teil 1: Russland

„Nichts ist wahr und alles ist möglich.“ (Peter Pomerantsev, 2015)

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht zuletzt auch ein Krieg der Lügen. Dass russische Regierungen Meisterinnen der Desinformation sind, wissen alle, die sich mit der Geschichte des Landes beschäftigen. Von den antisemitischem „Protokollen der Weisen von Zion“ (1903), einem Machwerk der zaristischen Geheimpolizei Ochrona, über die tausenden von Seiten Untersuchungsberichte, mit denen nachgewiesen werden sollte, dass der Massenmord im Wald von Katyń (1940) kein sowjetisches, sondern ein deutsches Verbrechen war, bis hin zu den viral verbreiteten „Beweisen“, dass das Flugzeug MH17 im Jahre 2014 auf keinen Fall von einer russischen Rakete abgeschossen worden sein konnte – wer sehen will, der kann sehen. 

Nun sind Propaganda und Lügen beileibe keine russische Spezialität: So ziemlich jede Regierung dieser Erde wurde bereits dabei ertappt. Und doch kommt spätestens seit der russischen Gerassimow-Doktrin zur hybriden Kriegsführung noch einmal etwas Neues hinzu: Der Angriff auf die Realität selbst. Ging es etwa im Kalten Krieg noch um den Kampf zwischen zwei politischen Systemen auf gemeinsamer, sagen wir: rational-aufklärerischer Grundlage, geht es heute darum, die Öffentlichkeit mit so viel Desinformation zu fluten, bis kein Mensch mehr durchblickt. Zielte russische Staatspropaganda einst in eine bestimmte Richtung, so zielt sie heute in mehrere, sich teils widersprechende Richtungen gleichzeitig. Das gewünschte Resultat ist, dass selbst gut informierte Beobachter:innen des Geschehens zu Protokoll geben, es sei „alles sehr komplex“. Und in dem daraus resultierenden Nebel führen selbst die dreisteten und offensichtlichsten Lügen des Putin-Regimes nicht dazu, dessen Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Vielmehr kann immer alles auch ganz anders sein. Genau wissen kann man es ja schließlich nicht. Oder doch?

Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die gängigsten Mythen, Verschwörungserzählungen und Ablenkungsdebatten in Bezug auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine Stück für Stück zu widerlegen. Thematisch gegliedert ist das Ganze in „Russland“ und „Ukraine“. Schwerpunkt bei Russland sind die Standardargumentationen der sogenannten „Putin-Versteher“ – ein deutscher Begriff, der längst international Karriere macht. Im Abschnitt über die Ukraine geht es viel um waschechte Lügen russischer Propaganda. Bei genauer Betrachtung wird deutlich, wie mangelhaft der öffentliche Kenntnisstand selbst noch über die Ereignisse von 2014 oft ist und mit welch perfiden Mitteln versucht wird, die Ukraine als eindeutig Angegriffener in diesem Krieg in ein schlechtes Licht zu rücken. Einen eigenen Schwerpunkt „USA“ gibt es nicht. Vielmehr tauchen die Vereinigten Staaten in den Mythen aller drei Themenblöcke immer wieder auf. Und damit sind wir auch schon mitten im Thema …

„Die Zukunft ist Geschichte.“ Masha Gessen, 2017

„Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen,
aber …“

Bei Texten und Beiträgen, die so beginnen, kann man sich eigentlich sicher sein, dass nach dem „aber“ eine Rechtfertigung des Krieges kommt. Es ist dann in der Regel viel von der „Vorgeschichte“, vom „Kontext“, gar von einer „Metaperspektive“ die Rede. Wahlweise auch von „welt- oder geopolitischen Interessen“ mit den USA als „eigentlichem“ Gegner der Russischen Föderation und der Ukraine als Spielfigur auf dem Spielbrett globaler Machtkämpfe. Diese Denkfigur läuft im Grunde darauf hinaus, für Russland das, was man früher einmal „mildernde Umstände“ genannt hat, geltend zu machen; Umstände, so ein Lexikon-Eintrag, „die das kriminelle Gewicht einer Straftat oder die Schuld des Täters mindern und deswegen die regelmäßige Strafe als zu streng erscheinen lassen“. In dieser Lesart reagiert Russland nur und ist ebenso wie die Ukraine letztlich Subjekt. Handlungsleitende Macht sind die USA als Hegemon des Westens. Es handelt sich um eine klassische, westzentriert-koloniale Perspektive, nunmehr mit umgekehrten Vorzeichen: „Wir handeln, andere erdulden“, „wir sind der Beweger, die anderen die Bewegten“. Kann Russland in einem solchen Weltbild eigentlich irgendwas falsch machen?

„Der Westen hat sein Versprechen gegenüber Russland gebrochen, dass es keine NATO-Osterweiterung geben wird.“

Das angebliche Versprechen des Westens gegenüber Russland, die NATO im Zuge der weltpolitischen Wende nach 1990 nicht weiter nach Osten auszuweiten, geistert seit beinahe drei Jahrzehnten durch die internationalen Beziehungen: Aber wer soll da wem wann eigentlich was versprochen haben? Tatsache ist: Es gibt in dieser Hinsicht keinen Vertrag, kein Abkommen, kein geheimes Zusatzprotokoll. Das konnte es auch gar nicht geben. Zu der Zeit, als die Charta von Paris (1990) zur Einstellung der Ost-West-Konfrontation verabschiedet wurde, gab es noch den Warschauer Pakt, das sowjetische Gegenstück zur NATO. Dieser wurde erst im Juli 1991 aufgelöst. Sicher war auch damals schon absehbar, dass die Staaten Mittel- und Osteuropas schließlich in die westlichen Bündnisse drängen würden – dafür sprach nicht zuletzt ihre historische Erfahrung und ihr Sicherheitsbedürfnis als Nachbarn Russlands. Doch konnte es regelrechte Verhandlungen zum Thema damals gar nicht geben.

Was es hingegen gab, waren Hintergrundgespräche, mündliche Absprachen und Versicherungen. Sie sind es, die nun bei jeder Gelegenheit zitiert werden, um die Legende vom gebrochenen Versprechen zu untermauern. Die Beteiligten haben alle längst ihre Memoiren vorgelegt. Der ein oder andere schreibt tatsächlich von entsprechenden Gesprächen und Zusicherungen gegenüber Russland. Doch was sind diese eigentlich wert?

Jeder, der sich einmal mit Diplomatiegeschichte auseinandergesetzt, wer sich einmal durch entsprechende Aktenwerke gearbeitet hat, weiß: Geredet wird immer viel. Es ist ja auch durchaus anzunehmen, dass beteiligte Außenpolitiker, die etwa der realistischen Schule angehören, der Meinung waren und sind, dass eine NATO-Osterweiterung Russland über Gebühr reizen würde und damit abzulehnen sei.

Das „Wer“ und das „Wann“ in der Eingangsfrage sind also schon einmal ziemlich blass. Einzelne Beteiligte: Ja. Aber nicht „der Westen“, „die USA“, „die NATO“ oder irgendeine offizielle Stelle. Ein realistischer Zeitpunkt ist ebenfalls unklar.

Kommen wir also zum „Wem“ und zum „Was“: Das völkerrechtliche Subjekt, das 1990 die Charta von Paris unterzeichnete, hieß „Sowjetunion“. Dabei handelte es sich um einen Verbund aus 15 Sowjetrepubliken, von denen Russland eine war. Sicher war absehbar, dass Russland als größter Staat der Erde auch weiterhin eine wichtige Rolle in den internationalen Beziehungen spielen würde, doch wäre es schon ziemlich vermessen gewesen, dem sich gerade neu gründenden Staatswesen von vorneherein gewisse Mitspracherechte und historische Ansprüche auf Osteuropa zuzubilligen. 

Aber vor allem: Ein solches Versprechen hätte ja nur über die Köpfe der Staaten Mittel- und Osteuropas sowie des Baltikums gegeben werden können. Die außenpolitische Souveränität demokratisch verfasster Staatswesen wäre von Anfang an beschnitten worden. Zugunsten machtpolitischer Ansprüche eines Nachbarn. Es verwundert immer wieder, dass ein solch paternalistischer und auch weltfremder Gedanke so vielen intelligenten Menschen plausibel erscheint. 

Zuletzt: Das Völkerrecht krankt daran, dass es oft kaum sanktioniert werden kann. Der internationale Strafgerichtshof etwa wird von Russland, den USA und China nicht anerkannt. Aber es mutet schon beinahe komisch an, dass immer wieder auf ein inoffizielles, zwischen Tür und Angel angeblich gegebenes Versprechen gegenüber Russland verwiesen wird, wenn eben dieses Russland (mindestens) die KSZE-Schlussakte (1975), die Charta von Paris (1990), das Budapester Memorandum (1994) und die NATO-Russland-Grundakte (1997) offen gebrochen hat. 

Letztlich handelt es sich bei dem angeblichen „Versprechen“ um ein paternalistisches Fantasieprodukt, das den Geist von Jalta atmet: Osteuropa wird wieder einmal zur Verhandlungsmasse der Großmächte degradiert. 

„Vor einer NATO-Osterweiterung wurde dennoch immer wieder gewarnt. Es war doch klar, dass hierdurch russische Sicherheitsinteressen berührt werden und Russland sich eingekreist fühlt!“

Was genau heißt eigentlich „russische Sicherheitsinteressen“? Sind es nicht eher die Sicherheitsinteressen des Putin-Regimes? Geht denn von Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik oder dem Baltikum irgendeine Gefahr für Russland aus? Oder demnächst von Schweden oder Finnland? Vielmehr ist es doch so, dass Putin keine prosperierenden Demokratien in seiner Nachbarschaft dulden kann, da die Russ:innen selbst sonst auf die Idee kommen könnten, ihre mangelhafte wirtschaftliche Entwicklung könnte etwas mit dem Geheimdienstregime an der Spitze des Staates und dessen Fokussierung auf den Verkauf fossiler Energieträger zu tun haben. Zur angeblichen Bedrohung Russlands durch die NATO schrieb der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch: „NATO-Truppen stehen in Europa nur in NATO-Mitgliedstaaten. Russische Truppen hingegen bis heute in drei europäischen Staaten – gegen deren Willen: in Georgien, in der Ukraine und in der Republik Moldau. Ob es dem Wunsch des belarusischen Volkes entspricht, russische Truppen im Land zu haben, darf bezweifelt werden.“ Und wie sagte Putin im Jahre 2004 auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Gerhard Schröder in Russland, wenige Tage nach der zweiten NATO-Osterweiterungsrunde um Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien? „Hinsichtlich der NATO-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.“

„Die Putins kommen und gehen. Russland aber wird bestehen bleiben.“ 

Gemeint ist damit oft, dass für jeden Putin irgendwann auch wieder ein Gorbatschow kommt. Das Problem: Nach jedem Gorbatschow kommt eben auch wieder ein Putin. Wenn man als Osteuropäer:in auf den Lauf der Jahrhunderte blickt, dann ist nicht etwa die Frage, ob Russland irgendwann wieder imperiale Ambitionen entwickelt, sondern nur, wann man davon persönlich betroffen ist. Nach Lage der Dinge bietet eine Mitgliedschaft in der NATO die beste Gewähr dagegen, ein Opfer russischer Expansion zu werden. Die ewige Huhn-oder-Ei-Diskussion darüber, was zuerst da war – russischer Imperialismus, NATO-Osterweiterung, russische Reaktionen darauf –, ist im Grunde müßig. 

Es ist ein Gebot der Vernunft und ein sicherheitspolitischer Imperativ, sich als Osteuropäer gegen russische Übergriffe zu wappnen – unabhängig von tagespolitischen Konjunkturen. Das wird so lange der Fall bleiben, bis Russland vom Nukleus eines Imperiums zum post-klassischen Nationalstaat wird, der friedlich und zum gegenseitigen Vorteil Handel und politische Kooperationen mit seinen Nachbarn betreibt, ähnlich der deutschen Rolle in Europa nach 1945. Das wiederum erfordert eine tiefe Zäsur, ein vollständiges Scheitern des jetzigen Regierungssystems und eine grundlegende mentale Wende von Gesellschaft und Staat. Wie realistisch das alles für die nähere Zukunft ist, muss offenbleiben. Zweifel sind mehr als angebracht. Klar ist jedoch spätestens jetzt, dass „Wandel durch Handel“, „Wandel durch Verflechtung“ und eine sukzessive Liberalisierung auf dem Wege vielfältiger Kontakte auf allen Ebenen nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht haben oder jemals bringen werden. Vielmehr ist das Ziel angezeigt, das der US-amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin im April 2022 in Polen verkündet hat: „Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist.“ Interesse des Westens muss es also sein, den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine so kräftezehrend und erfolglos für Russland wie möglich zu machen, um eben jene Schwächung herbeizuführen. 

„Russland ist immerhin eine Atommacht! Gegen Atommächte kann man keinen Krieg gewinnen!“

Doch, kann man: Die USA (Vietnam), die Sowjetunion (Afghanistan) und Frankreich (Algerien) sind die besten Beispiele. Die Drohung mit Atomwaffen ist als Teil der russischen Abschreckungsdoktrin fester Bestandteil der Kreml-Rhetorik. Davon zu trennen aber ist die reale Gefahr eines Nuklearwaffeneinsatzes. Derart selbstmörderisch oder auch nur leichtsinnig ist selbst das Putin-Regime nicht. Ausschließen kann man die nukleare Option leider nicht. Doch zwischen ihr und der Gegenwart liegen etliche Eskalationsstufen. 

„Wie sollen unsere Beziehungen zu Russland denn künftig aussehen? Ignorieren kann man das größte Land der Erde ja wohl nicht?“

Es wird irgendwann mit großer Wahrscheinlichkeit auch wieder „normale“ diplomatische Beziehungen geben, Handel getrieben werden – wenn auch hoffentlich nie wieder so exklusiv wie zuletzt im Energiebereich. Solange das Putin-Regime an der Macht ist, müssen diese jedoch gekoppelt werden mit einer starken offenen (und auch verdeckten) Unterstützung der russischen Dissidenten, der fragmentarisch sichtbaren Opposition sowie mit einem wesentlich konsequenteren Vorgehen gegen russische Destabilisierungsanstrengungen im Westen.

„Ist es aber nicht trotzdem besser, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen?“

Also weitermachen, wie bisher? 

Schaut man auf die Bilanz der bisherigen Politik, kann man nicht gerade von einem Erfolg sprechen: Tschetschenien- und Georgien-Kriege, Giftanschläge in ganz Europa, Auftragsmorde im In- und Ausland, Wahleinmischungen im gesamten Westen, Trump, Brexit, Massaker in Syrien, Destabilisierung von Politik und gesellschaftlichem Klima durch Trollfabriken und massive Desinformationskampagnen, AfD, Salvini, Le Pen und Kickl, Einmarsch in den Donbas, gewaltsame Annexion der Krim, Abschuss von MH17, Zerstörung der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Friedensordnung, Cyber-Attacken auf zahlreiche NATO-Mitglieder, Zündeln auf dem Balkan, immer offener zur Schau getragene Repression in Putins Russland und zuletzt Massenmord in der Ukraine. 

Eine „Zeitenwende“, wie sie Bundeskanzler Scholz (SPD) ausgerufen hat, scheint doch mehr als angezeigt.

„Aber hat nicht der Westen auch immer wieder das Völkerrecht gebrochen?“

Dass es sich bei dem, was die Russische Föderation seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine betreibt, um einen eklatanten Bruch des Völkerrechts handelt, bezweifelt kaum jemand. Und doch wird immer wieder darauf verwiesen, dass der Westen ebenfalls wiederholt das Völkerrecht gebrochen hat. Der NATO-Angriff auf Serbien im Kosovo-Krieg 1999 erfolgte ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats und die US-Invasion des Iraks 2003 wurde mit Propaganda und Lügen begründet. Die Diskussion darüber, ob Kriege, die (auch) die Entmachtung von Diktatoren zum Ziel haben (Slobodan Milošević, Saddam Hussein), auf einer Stufe stehen mit dem Angriff auf eine Demokratie wie die Ukraine – so sehr diese auch mit Mangeln behaftet sein mag –, wird zwischen gegnerischen Lagern nicht zu einem Konsens führen können. Sie basiert in wesentlichen Teilen auf präkonfigurierten Weltbildern. Für die einen handelt es sich bei dem Hinweis auf Verfehlungen des Westens bereits um russischen „Whataboutism“ (Entlastungsvergleiche), für die anderen ist das Konzept des „Whataboutism“ selbst eine westliche Erfindung, um unliebsame Kritik abzuschmettern. Man mag sich dennoch die Frage stellen, welchen praktischen Wert es für Menschen in Not hat, beispielsweise den Krieg in der Ukraine mit dem Jemen-Krieg ins Verhältnis zu setzen. Auf der einen Seite Russland als Aggressor, auf der anderen Seite das mit dem Westen verbündete Saudi-Arabien, an das sogar im großen Stil Waffen geliefert wird. Auch die Rolle Erdogans und der Türkei gerät ins Blickfeld: Sein perfides Spiel, sich die Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands mit einem gewissen Wegsehen des Westens beim Terror gegen die Kurden in Nordsyrien zu erkaufen, ist in der Tat erschütternd. Doch der Versuch, die perfekte, widerspruchslose Lösung für die Probleme der Weltpolitik zu finden, kann nur zu tatenlosem Attentismus führen. Geholfen wäre so niemandem.

„Hat Putin den Deutschen nicht 2001 im Deutschen Bundestag die Hand zum Frieden ausgestreckt – sogar auf deutsch?“

Das ist ein bis heute verbreiteter Irrglaube: „Der Tag, an dem Wladimir Putin die Deutschen einwickelte“, schreibt der WELT-Journalist Philip Cassier über diesen 25. September 2001, der ganz unter dem Eindruck des 11. Septembers und den Terror-Anschlägen in den USA stand. Putin als Friedensengel? Das kommt allein schon deshalb nicht hin, wenn man bedenkt, dass die Terroranschläge auf russische Wohnhäuser mit hunderten von Toten, die „tschetschenischen Terroristen“ in die Schuhe geschoben und als Anlass für den brutalen Zweiten Tschetschenienkrieg genommen wurden, da bereits zwei Jahre zurücklagen. „Notfalls machen wir sie auf dem Scheißhaus kalt“, sprach der neue starke Mann Russlands 1999, kurz vor der völligen Zerstörung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Hat ein solcher Mann Demokratisierung und Liberalisierung im Sinn? Oder treibt ihn, der den Zusammenbruch der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete, nicht vielmehr der Verlust des Großmachtstatus Russlands um? Die These von der Radikalisierung Putins im Laufe der Jahre, die ihrerseits eine Reaktion auf Sünden des Westens darstellt, ist vor diesem Hintergrund zurückzuweisen. Vielmehr weist vieles auf das Exekutieren eines lang gehegten Plans hin, der ohne NATO-Osterweiterung womöglich sogar schneller ins Werk gesetzt worden wäre. 

Was genau sagte Putin in seiner Bundestagsrede unter anderem? „Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts­, Kultur­ und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.“ Hierzu noch einmal Philip Cassier (DIE WELT): „Nie zuvor – so könnte man es polemisch ausdrücken – hatte jemand die Parole «Ami go home» eleganter verpackt als der russische Präsident an diesem Tag.“

Die russischen Bemühungen, einen eurasischen Block unter russischer Führung zu etablieren, gehen bis in die 1920er Jahre zurück, als der russische Außenminister Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin mit dem Vertrag von Rapallo eine engere Anbindung an das Deutsche Reich ins Werk setzte. Eine Anbindung Deutschlands an den Westen – und damit an Demokratie und Parlamentarismus! – stand dabei natürlich im Wege. Das ist auch der Hintergrund der Stalin-Noten des Jahres 1952, in denen den Westmächten die Wiedervereinigung eines „neutralen“ Deutschland angeboten wurde. Was in entsprechenden Kreisen bis in die Gegenwart als „verpasste Chance“ angesehen wird, muss wohl als das gelten, was die meisten seriösen Historiker nach Öffnung der sowjetischen Archive erkannt haben: Ein reines Störmanöver. Ein neutrales Deutschland wäre für eine russische Expansion über den Ostteil hinaus jedenfalls ein leichteres Opfer gewesen als eine BRD, die fest in den westlichen Bündnissen integriert war. Von einem solcherart ungeschützten Deutschland träumte auch Putin 2001 in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag. Damals wie heute standen die USA diesen Absichten im Wege. Wie wäre wohl ein gleichsam „russisches“ Deutschland in seinem Inneren verfasst, wenn die westlichen Bündnisse eines Tages wegfielen? Glaubt irgendjemand, dass ein solches Deutschland freier, demokratischer und gerechter wäre? Und Europa? Die „Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok“, die Putin 2010 in die Debatte warf, klingt im Grunde nach einem vernünftigen Ziel. Doch wie wäre wohl ein Europa beschaffen, in dem jene Parteien in den Regierungen sitzen, die Russland seit Jahren offiziell und inoffiziell mit Finanzmitteln ausstattet? 

5 Antworten zu „Mythen des Ukraine-Kriegs. Teil 1: Russland”.

  1. Avatar von reinerpeffm rcpffm
    reinerpeffm rcpffm

    gut und super formuliert.
    Bei mir in FB geteilt.
    Ich warte gespannt auf weitere Einordnungen.

  2. Avatar von reinerpeffm rcpffm
    reinerpeffm rcpffm

    Ich fände es übrigens ganz wichtig, auch noch auf Putins Lieblings“denker“
    I. Iljin
    einzugehen, einen die Sowjets hassenden ultranationalen und mMn rassistischen Faschisten, der von Putin ÖFFENTLICH allen zum Lesen empfohlen wurde, und sicher nicht, um seine steilen Thesen und Folgerungen kritisch zu hinterfragen.
    Auch die Unterstützung der religiösen orthodox-rusdischen Kirche darf mMn nicht unerwähnt bleiben, Kyril ist bei ALLEN Auftritten in vorderster Front dabei. und Putin scheint sich tatsächlich auf einer krassen religiös-moralischen Mission zu glauben, ich glaube, er glaubt das wirklich.
    ein bisschen von Dostojewski. 🤔

      1. Avatar von reinerpeffm rcpffm
        reinerpeffm rcpffm

        danke.
        zieh ich mir demnächst rein.
        Wahrscheinlich werde ich einiges auf meinem FB-Auftritt unterbringen, ggf. nicht als geteilten Beitrag, sondern als Kommentar zu anderen ähnlich gelagerten Beiträgen von mir.

  3. Avatar von Andreas Müller
    Andreas Müller

    „Aber hat nicht der Westen auch immer wieder das Völkerrecht gebrochen?“
    In diesem Punkt gelingt nicht einmal eine Relativierung des Arguments, um von einer Widerlegung gar nicht erst zu sprechen.
    Besonders deutlich wird das im Fall des Krieges gegen Serbien und den (angeblichen) Diktator Milosevic.
    War Milosevic wirklich ein Diktator? Tatsächlich ist das nur eine Behauptung, über die noch nicht einmal ein Konsens besteht, geschweige denn ein verbindliches Urteil. Die Diktatoreneigenschaft wurde ihm ähnlich fahrlässig von Politikern und Medien zugesprochen wie auch schon polnischen, ungarischen, türkischen oder amerikanischen Präsidenten der jüngeren Geschichte. Wenn es so einfach wäre, Angriffskriege einseitig mit angeblichen Diktaturen zu rechtfertigen, gäbe es bald keine ungerechtfertigten Angriffskriege mehr. Die polnischen Präsidenten der 1930er Jahre, Pilsudiski und Beck waren übrigens eindeutiger Diktatoren als Milosevic oder Erdogan, Militärdiktatoren nämlich.
    Es ist in Den Haag in mehr als 4 Jahren Verfahren mit Untersuchungshaft nicht gelungen, Milosevic zu überführen, im Jugoslawienkrieg für Kriegsverbrechen verantwortlich gewesen zu sein. Er war damit bei seinem Tod 2006 juristisch ein unschuldiger Mann:
    „Milosevic was charged with 66 counts of war crimes, crimes against humanity, and genocide. At the time when he first appeared in The Hague, CNN called it ‚the most important trial since Nuremburg.‘ But during the proceedings, the prosecution wasn’t able to clearly establish Milosevic’s responsibility for atrocities, some witnesses were exposed as liars, and even the crimes‘ scope has been questioned“
    Diese missliche Lage hätte nur dadurch noch misslicher werden können, dass er explizit vom Gerichtshof freigesprochen worden wäre. Diese Möglichkeit bestand und wurde erst durch seinen plötzlichen Herztod – in Haft, in Den Haag – ausgeschlossen.
    Man stelle sich vor, ein so ausgesprochen unbequemer, politisch brisanter Häftling würde in Russland, China, Myanmar oder der Türkei in Haft sterben….
    Aus dem Versuch der Relativierung des Arguments mit dem „Diktator Milosevic“ ist so unversehens fast eine glanzvolle Bestätigung für die Allgegenwart politischer Doppelstandards geworden.

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