Die Demokratie ist ins Gerede gekommen.  Anlässe dafür gab es in den letzten Jahren genug: Mit dem Populismus trat eine ebenso klassische wie degenerierte Demokratie-Variante erneut auf den Plan, die an den Grundfesten parlamentarischer Ordnungen rüttelt. Von Berlusconi bis Orban, von Trump bis Brexit reichen die bisherigen Eruptionen dieses neu-alten Phänomens. Hinzu kamen illiberale Umtriebe und Kulturkriege, eine globale Pandemie, russischer Imperialismus und Putins Kampfansage an den „kollektiven Westen“. Grund genug, sich verstärkt wieder den Grundlagen unserer politischen Ordnung zu widmen.

Josiah Ober („Demopolis“) begab sich 2017 zu den Ursprüngen der Demokratie im alten Griechenland, von wo Klaus Bringmann („Das Volk regiert sich selbst“) den Weg dieser Staatsform bis in die Gegenwart fortzeichnete (2019). Steven Levitsky und Daniel Ziblatt („Wie Demokratien sterben“) analysierten 2018 Strukturmerkmale, die zum Scheitern von Demokratien führen, während Christoph Nonn („Wie Demokratien enden“) hierzu 2020 einen Essayband mit konkreten Beispielen veröffentlichte. Viel Aufsehen erregte Hedwig Richter mit ihrem Band „Demokratie“ im Jahre 2020, der nicht nur durch den Untertitel „Eine deutsche Affäre“ eine lebhafte, mitunter bissige Debatte auslöste. Krise, so die optimistische Botschaft Richters, sei eigentlich immer. Die Geschichte der Demokratie sei eine Chronologie von Fehlern, Zufällen und Lernprozessen. Den aktuellen Stand zeitgenössischer Demokratie-Diagnosen fasste dann Herfried Münkler in dem ebenso konzisen wie thesengesättigten Band „Die Zukunft der Demokratie“ (2022) zusammen.

Nun sind in kurzer Zeit zwei Bände erschienen, in denen die Demokratie jeweils als „Zumutung“ bezeichnet wird. Der Stuttgarter Politikwissenschaftler Felix Heidenreich legt mit „Demokratie als Zumutung“ (2022) ein Plädoyer „für eine andere Bürgerlichkeit“ vor. Die Düsseldorfer Juristin Sophie Schönberger nennt ihren Band „Zumutung Demokratie“ (2023) etwas bescheidener „einen Essay“. Nun ist der Begriff der Zumutung zunächst einmal negativ konnotiert. Was uns zugemutet wird, ist ungewollt, schwer erträglich, sollte möglichst bald vorüber gehen. Und doch liegt in dem Begriff ja auch der „Mut“ versteckt, was auf eine aktivierende, befähigende, mithin emanzipatorische Ebene verweist.

Felix Heidenreichs Buch steht – obgleich bereits im Juli 2022 veröffentlicht – schon ganz unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs. Schönbergers Essay ist im Februar 2023 erschienen. Ihr zentraler Referenzrahmen ist jedoch die Corona-Pandemie, wodurch so manche Passage bereits älter wirkt. Heidenreich arbeitet sich durch die Geschichte des politischen Denkens an seine Gegenstände heran, während Schönbergers Ausführungen bescheidener daherkommen. Sie sieht die „Notwendigkeit sich gegenseitig auszuhalten“ als eine zentrale Herausforderung der Demokratie. Das individuelle Freiheitsversprechen jedes einzelnen ist in der Demokratie nur im Kollektiv denkbar. Deshalb, so Schönberger bündig, sei Demokratie auch kein „Selbstverwirklichungsprojekt“. Nur im „Wir“ entfalte sich die Kraft dieser Staatsform, während ihr von der Überbetonung des „Ich“ und des „Ihr“ Gefahr droht. Heidenreich argumentiert gegen die Konsumentenhaltung vieler Staatsbürger:innen, die sich selbst zusehends als „Politikkunden“ verstehen. Demokratischen Rechten müssten aber notwendigerweise auch demokratische Pflichten entsprechen. Nicht nur wir nehmen die Demokratie „in Anspruch“, wir werden auch durch sie „in Anspruch genommen“.

Ausschließen und Aushalten

Bei Schönberger lässt sich die gesamte Geschichte demokratischer Staatsformen als „Geschichte des Ausschließens und umgekehrt des Aushaltens“ erzählen. Dieser Ordnungsrahmen leuchtet etwa beim alten Athen unmittelbar ein. Hier wurden mindestens Frauen, Sklaven und Fremde von der „allgemeinen“ Volksherrschaft ausgeschlossen. Doch je näher sich die Autorin der Gegenwart nähert, desto weniger wollen ihre Bezüge passen. Vielmehr scheint es so, als solle die komplexe Realität an die übersichtliche These angepasst werden. Wenn etwa vom „Dammbruch von Thüringen“ im Februar 2020 die Rede ist, als CDU, FDP und Höcke-AfD gemeinsam einen Ministerpräsidenten wählten, dann sieht Schönberger in der Folge primär „Ausgrenzungsreflexe“. Die Bundesparteien von CDU und FDP seien aufgefordert worden, ihre Landesverbände auszuschließen. Wer aber soll so etwas gefordert haben? In der Fußnote findet sich lediglich ein Interview mit der Grünen-Politikerin Kathrin Göring-Eckardt.

Die eigentliche demokratische Zumutung an den damaligen Vorgängen war aber doch eine andere, nämlich es aushalten zu müssen, dass bürgerliche Parteien gemeinsame Sache mit einem Mann machten, der bereits damals gerichtsfest als „Faschist“ bezeichnet werden durfte, und dessen „Flügel“ der Verfassungsschutz seit 2019 als Verdachtsfall für extremistische Bestrebungen führte. Schönberger sieht all dies sicher auch, kommt im weiteren Verlauf auch immer wieder auf das Instrumentarium der AfD, die sich besonders gut aufs Ausschließen versteht, zu sprechen. Die Rede vom „eigentlichen“ Volk, für das die Partei (im Gegensatz zu allen anderen Parteien) stehe, der Anspruch, das „normale“ Deutschland zu vertreten und die damit einhergehende Vorstellung, dass „die spätmoderne Selbstoptimierungsmittelschicht“ im Grunde „marginal und irrelevant“, jedenfalls „unnormal“ sei – all das wird ins zentrale Framing vom Aushalten und Ausschließen verflochten.

Von einer „Spaltung der Gesellschaft“, wie sie immer wieder herbeigeredet wird, ist bei Schönberger jedoch nicht die Rede. Im Gegenteil befördere das ständige Gerede von einer „Spaltung“ ein Politikverständnis, das damit eigentlich kritisiert werden soll. Scharfe Auseinandersetzungen mit anschließender Mehrheitsentscheidung seien demokratisches Normalgeschäft und damit – im Wortsinn – auszuhalten: „Es handelt sich (…) möglicherweise eher um eine gesteigerte subjektive Wahrnehmung von Polarisierung und eine erhöhte Empfindlichkeit ihr gegenüber als um eine tatsächliche Verschärfung gesellschaftlicher Konfliktlinien.“

Und dennoch, um auf Schönbergers Kernthese zurückzukommen, führe die oft beklagte Individualisierung, der Rückzug ins Eigene, die Singularisierung der Geschmäcker und Haltungen zum Trend, sich immer weniger auf andere Meinungen einzulassen, andere Lebensentwürfe kaum noch „auszuhalten“. Doch – so möchte man einwenden – das Aushalten als positives Gegenstück zum Ausschließen zu definieren, bringt ebenfalls Probleme mit sich. Das Erdulden, das Ertragen – sprich: die Toleranz – ist selbst nicht ohne Fallstricke. „Toleranz ist nicht das Gegenteil von Intoleranz, sondern ihr Nachbild“, so schrieb einst der Aufklärer und US-Gründervater Thomas Paine (1737-1809). Toleriert werden muss nur etwas, das überhaupt zur Disposition steht. Bei Ausschließen oder Aushalten stehen also lediglich zwei negative Alternativen zur Auswahl. Wo aber bleibt da die emphatische Bejahung der Demokratie als Wert an sich? Wo bleibt der emanzipatorische Gehalt des Begriffs der „Zumutung“? Wie soll aus dem Hinweis, dass alle Alternativen zum Aushalten lediglich noch schlechter sind, die Begeisterung, das Engagement für die Demokratie erwachsen?

Neue Bürgerlichkeit

Felix Heidenreich möchte jenes Engagement mittels einer „neuen Bürgerlichkeit“ wecken, die den französischen Begriff des „Citoyens“ zum Vorbild hat. Nach einem Gang durch die Krisenbögen der Gegenwart – Stichworte: Populismus, Putin, Politikverdrossenheit –, stellt er fest: „Es gibt gute Gründe, alarmiert zu sein.“ Jene Krisen sind oft beschrieben worden, vieles ist hinlänglich bekannt, so dass der Autor selbst empfiehlt, den entsprechenden Abschnitt bei eigener Kenntnis der Sachlage zu überspringen. Eigentlicher Kern des Buches ist das Kapitel zur „anderen Bürgerlichkeit“, in dem er den „naiven“ Trend zum vermeintlich Echten, zur viel beschworenen Authentizität mittels einiger Klassiker der Ideengeschichte gekonnt dekonstruiert. So definiert er mit Hegel die „(Selbst-)Entfremdung“ als „notwendiges Entwicklungsinstrument“. Der Mensch, so Heidenreich, „müsse sich erst verlieren, um sich finden zu können. Erst durch Fremdheit entsteht eine Spannung, aus der etwas entstehen kann. Ein Bewusstsein, das immer nur «bei sich» wäre, könnte sich gar nicht weiterentwickeln.“ Der in der repräsentativen Demokratie unangebrachte Drang, stets „man selbst“ zu sein, führe zu einer ganzen Reihe von „Rollendiffusionen“, wenn Lehrer zu Kumpeln werden, Eltern beste Freunde oder eine Bundeskanzlerin zur „Mutti“. In dieser Hinsicht hatte bereits der Literaturwissenschafter Erik Schilling in seinem Essay „Authentizität“ (2020) für ein demokratischeres Rollenverständnis plädiert, als heute gemeinhin üblich ist. Statt dem Sein solle das Handeln im Vordergrund stehen; statt Eindeutigkeit Widersprüchlichkeit; statt Unmittelbarkeit Distanz; statt Konsequenz Kompromiss.

Warum die Überbetonung des „Ich“ im demokratischen Prozess, die Inanspruchnahme der Demokratie als Konsumgut, die Anspruchshaltung ohne Partizipationsbereitschaft dauerhaft zu Frustrationen und demokratischen Flurschäden führt, erklärt Heidenreich mit einem psychologischen Experiment aus dem Bereich der Verhaltensökonomie: Auf einer Landstraße wird eine Reifenpanne simuliert. Zufällig vorbeifahrende Personen werden in zwei Varianten gebeten, beim Wechsel des Rades zu helfen. In der einen Variante werden sie einfach um Hilfe gebeten, in der anderen werden ihnen zusätzlich 50 Dollar angeboten. Womöglich kontraintuitives Ergebnis: Im zweiten Fall waren viel weniger Menschen bereit, sich schmutzig zu machen. Im ersten Fall wurden sie als Mensch angesprochen. Helfen ist Ehrensache. Im zweiten Fall werden sie als vermeintliche Nutzenmaximierer identifiziert. Gerade dies kann zu Frustrationen führen: „Für 50 Dollar soll ich mir meinen Anzug ruinieren? Suchen Sie sich doch einen anderen Trottel!“

Aufgrund dieser Überlegungen zur staatspolitischen Verantwortung des Einzelnen in der Gemeinschaft, erteilte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis90/Die Grünen) im Sommer 2022 Überlegungen, den Bürger:innen eine Prämie auf das Energiesparen zu zahlen, eine Absage: „Das ist ja kein Spaß, den wir hier haben, sondern eine ernste politische, gesellschaftspolitische Situation und wenn wir da uns nicht gegenseitig helfen, kommen wir da nicht durch. Und wenn da jemand sagt, «ich helfe nur, wenn ich nochmal 50€ krieg‘», würde ich sagen: «Die kriegst du nicht, Alter!»“

Bei Heidenreich sind es Ökonomisierung, Emotionalisierung und Infantilisierung, die ein „gigantisches Rauschen“ erzeugen, durch das ein staatspolitisches Denken im Sinne aktiver Bürgerlichkeit erst einmal dringen muss. Dagegen nennt er wirkmächtige Elemente demokratischer Inanspruchnahme: Wahlpflicht, Einberufung in Bürgerräte per Losverfahren, Wehr- beziehungsweise Bürgerdienst sowie das Schöffenamt. Ergänzt werden sollen diese Aspekte durch einen neuen Begriff von Bildung in einem demokratischen Gemeinwesen, das sich auch als „Lerngemeinschaft“ versteht: „Schulen sind dann nicht mehr Zuarbeiterbetriebe, die Arbeitskräfte für die Wirtschaft «produzieren», sondern demokratische Institutionen.“

So könne die „Zumutung der Demokratie“ in Heidenreichs Sinne funktionieren: „Eine Mehrheitsentscheidung zu akzeptieren und an ihrer Umsetzung zu arbeiten“ – im Sinne Schönbergers sie zumindest auszuhalten –, „ist die Fähigkeit, sich (auch) regieren zu lassen. Das ist keine Unterwürfigkeit, sondern eine erlernte, reflektierte Kompetenz.“

Die Lektüre der beiden Bände ist beileibe keine Zumutung, sondern vielmehr erhellend. Inmitten der Krisenrhetorik der Gegenwart bieten sowohl Schönberger als auch Heidenreich Orientierung, Einordnung und vorsichtigen Optimismus hinsichtlich der Entwicklungsperspektiven der mangelhaften Staatsform Demokratie – die doch besser ist als alle bekannten anderen.

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