„Traditionen von Gewalt und Rechtlosigkeit“

Diktatur? Autokratie? Faschismus? Welche Begriffe wir auch immer für das aktuelle russische Regierungssystem finden, kaum jemand wird bestreiten, dass sich die Abkehr von der Demokratie, der Roll-Back in autoritäre Traditionen sowjetischer und zaristischer Zeiten zuletzt noch einmal intensiviert hat. Der oppositionelle Leonid Wolkow spricht in seinem Buch „Putinland“ davon, dass sich Russland zuletzt „im Eiltempo (…) von einem hybriden autoritären Regime in ein totalitäres Regime, von einer Pseudo-Demokratie in ein vollendetes faschistisches System“ verwandelt habe. In dieser Deutung, insbesondere bei dieser Benamung muss man ihm nicht folgen. Laut dem ZEIT-Korrespondenten Michael Thumann versteht man das Putin’sche Regime „nicht zur Gänze, wenn man versucht, es in eine bekannte Schablone von westeuropäischen Vorbildern zu pressen.“ Vielmehr, so Thumann in seinem Buch „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“, baue dessen System „auf nie bewältigten russischen und sowjetischen Traditionen von Gewalt und Rechtlosigkeit auf. Der Putinismus ist eine Art UdSSR ohne Sozialismus, eine pseudoklerikal-konservative Moralherrschaft, ein giftsprühender Polizeistaat, nach innen repressiv, nach außen aggressiv.“ 

Es gibt hierzulande eine lebhafte Debatte darüber, welche Vergleiche zulässig und welche Begriffe angemessen sind. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass immer wieder auch Hitler-Vergleiche angestellt werden: Während der Freiburger Historiker Ulrich Herbert in der TAZ emphatisch erklärt, „mit Hitler hat das nichts zu tun“, konstatiert der Publizist und freiberufliche Historiker Gerd Koenen in der Zeitschrift OSTEUROPA (1-3/2022), „Parallelen und Ähnlichkeiten lassen sich schwer übersehen“. Auch der große Historiker des Westens, Heinrich-August Winkler, sieht im Tagesspiegel zwar „erschreckende Parallelen“, sieht jedoch in Putin keinen „zweiten Hitler“. An einer Synthese versucht sich der Tübinger Osteuropa-Historiker Benno Ennker in der F.A.Z.: „Die aufgeführten Phänomene tragen weniger Züge des Faschismus, als dass sich in ihnen vielfache Anklänge an Staat und Gesellschaft der Sowjetperiode finden. Zugleich enthalten die Kriegsführung und -propoganda gegen die Ukraine mit ihrer rassistischen Hetze und den genozidalen Gräueltaten deutliche Charakteristika des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs. Offensichtlich greift dieses Führerregime willkürlich auf ein ganzes Arsenal von Terror, Krieg und Propaganda der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts zurück.“

Leben und Sterben in der Diktatur

Doch was heißt all das für durchschnittliche Bürger:innen der Russischen Föderation im Jahre 2023? Hat sich das Leben der Bevölkerung seit dem Februar 2022 verschlechtert? Ist es mehr oder weniger gleichgeblieben? Gibt es nicht – neben all der Repression – nach wie vor Freiheitsräume, gesellschaftliches Leben, die Modernität der Großstädte, die immer gleiche Einöde der Provinz? Kann man nicht auch in einem solchen System ein glückliches Leben führen? Wie „schlimm“ ist eigentlich eine Diktatur für die breite Masse der Bevölkerung? Das hängt stark vom eigenen Menschenbild, vom Gerechtigkeitsbegriff und von den Idealen ab, die jeweils Betrachtende für sich reklamieren. Michael Thumann beschreibt im oben erwähnten Werk, dass die Realität des Krieges etwa für die Moskauer Bevölkerung erst durch die Mobilmachung vom September 2022 deutlicher wahrnehmbar wurde, als die Diskrepanz zwischen „Blumenfestivals hier“ und „Bombenregen dort“ nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Auffallend ist jedenfalls, dass die zunehmende Repression im Inneren Russlands in den deutschen Debatten über Verhandlungen mit Putin, Waffenlieferungen an die Ukraine und die Rolle des Westens kaum eine Rolle spielt. Die entsprechenden Texte lesen sich, als hätte sich seit dem Februar 2022 im Grunde nichts geändert. 

Es gibt dabei eine deutsche Tradition der Diktaturverharmlosung, die sich in den oben gestellten Fragen äußert und die oftmals unter dem Rubrum des „Friedens“ daherkommt. Dieser Friedens-Begriff hat allerdings eher mit einer Friedhofsruhe zu tun als mit innergesellschaftlicher Befriedung. Speziell gegenüber Mittel- und Ostereuropa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Teilen der Gesellschaft eine kolonial-herablassende Attitüde halten können, wonach ebenjener Frieden verbunden mit Stabilität und Berechenbarkeit als höchste Werte galten, der reale Terror im realen Sozialismus im besten Fall ausgeblendet, im schlimmsten Fall jedoch als angemessen erachtet wurde. 

Nachdem der polnische Regierungschef General Jaruzelski 1981 das Kriegsrecht ausrief, um die wachsende Macht der Gewerkschaft Solidarność zu brechen, lobte ihn etwa der SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein, eine damals verbreite Sichtweise einnehmend. In Augsteins Augen hatte Jaruzelski „mit dem Kriegsrecht den Frieden in Europa gerettet.“ Für die sowjetische Besatzung Osteuropas hatte der Herausgeber großes Verständnis: „Den Sowjets (…) wird angesonnen, ihr polnisches Glacis, von dem ihnen wahrlich Gefahr gedroht hat und droht, kampflos aufzugeben.“ Es waren solche Worte, die den polnischen Publizisten Jan Józef Lipski daraufhin einen Leserbrief an den SPIEGEL schreiben ließen, in dem es hieß: „Aus dem Artikel von Herrn Augstein erfahren wir, dass die Polen übergeschnappt sind: Sie verlangen nach Freiheit.“

Unvergessen bleibt in diesem Zusammenhang auch das Günter-Grass-Wort, die DDR sei doch eher eine „kommode Diktatur“ gewesen. So schlimm, so lässt sich daraus schließen, war das doch alles nicht. Erfüllte Lebensläufe, ein glückliches Dasein, ein größeres Gespür für die Kraft der Gemeinschaft und der Solidarität waren doch schon drin? Dass aber der real existierende Sozialismus im Grunde nie funktioniert hat, beschreibt die US-Historikerin Anne Applebaum in ihrem großen Werk über die „Unterdrückung Osteuropas“ nach 1944:

„Keines der Regime schien jemals zu erkennen, dass sie per definitionem instabil waren. Sie taumelten von Krise zu Krise, nicht weil sie ihre Politik nicht verfeinern konnten, sondern weil das kommunistische Projekt selbst fehlerhaft war. Indem sie versuchten, jeden Aspekt der Gesellschaft zu kontrollieren, hatten die Regime jeden Aspekt der Gesellschaft in eine potenzielle Form des Protests verwandelt. Der Staat hatte den Arbeitern hohe Tagesquoten diktiert – und so wuchs der DDR-Arbeiterstreik gegen hohe Tagesquoten schnell zu einem Protest gegen den Staat. Der Staat hatte diktiert, was Künstler malen oder Schriftsteller schreiben durften – und so wurde ein Künstler oder Schriftsteller, der etwas anderes malte oder schrieb, auch zum politischen Dissidenten. Der Staat hatte diktiert, dass niemand unabhängige Organisationen gründen durfte – und so wurde jeder, der noch so unbedeutend eine gründete, zum Gegner des Regimes. Und als sich viele Menschen einer unabhängigen Organisation anschlossen – als zum Beispiel rund 10 Millionen Polen der Gewerkschaft Solidarność beitraten – stand plötzlich die Existenz des Regimes auf dem Spiel.“

Unterdrückung als Frieden und Stabilität

Solcherart „befriedete“ Verhältnisse waren im (west-)deutschen Bewusstsein selten präsent. Wer beschäftigte sich schon – um den Blick zu weiten und nur ein Beispiel zu nennen – mit dem Leben im Irak des Saddam Hussein? Liest man die Romane des Deutsch-Irakers Abbas Khider mit ihren grausamen, mitunter tragikomischen Beschreibungen der Alltagsgefahren in dieser brutalen Diktatur, dann läuft es einem oftmals kalt den Rücken herunter. Tausende von Menschen starben allein durch Giftgaseinsätze des Regimes gegen den Iran oder gegen die nordirakischen Kurden – ermöglicht durch Giftgas aus überwiegend deutscher Produktion. Auf die Straße trieb die deutsche Friedensbewegung jedoch erst der US-geführte Zweite Golfkrieg. Allein am 26. Januar 1991 gingen in Bonn 200.000 Menschen gegen den UN-mandatierten Einsatz zur Befreiung Kuweits auf die Straße.

Was aber war es denn, was Saddam Hussein der Region und der Welt geboten hatte? Es war dasselbe, was auch Tito in Jugoslawien, Hodscha in Albanien, Mubarak (und heute al-Sisi) in Ägypten, die Assads in Syrien, Ben Ali in Tunesien und eben die Führer des Warschauer Paktes boten: Vermeintliche Stabilität.  Wie „schlimm“ war es jeweils, in diesen Regimen zu leben, in ihnen aufzuwachsen, Familien zu gründen, Karriere zu machen, seinen Lebensabend zu verbringen? 

Schauen wir selbst auf jene Diktatur, deren wahnsinniger Ideologie insgesamt bis zu 20 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind (Zivilisten und Kriegsgefangene), auf das Deutsche Reich zwischen 1933-1945, dann wird man nicht umhinkommen, zu konstatieren, dass ein Leben im nationalsozialistischen Alltag bis in die frühen 1940er Jahre hinein, bis der Krieg dann auf das Reich zurückschlug, ein durchaus wohlbehütetes sein konnte. Götz Alys Standardwerk „Hitler Volksstaat“ (2004) gibt einen guten Eindruck von der nationalsozialistischen Zustimmungsdiktatur mit ihren Raubzügen durch Europa, ihren sozialstaatlichen Wohltaten und Steuergeschenken sowie den Anfängen von Konsumgesellschaft und Jahresurlaub.

Womit wir wieder zur Eingangsfrage nach dem Charakter des Putin-Regimes zurückkommen. Eine Klärung dieser Frage ist insbesondere deshalb geboten, da sie auch Aufschluss darüber gibt, was die ukrainische Bevölkerung in den besetzten Gebieten erleiden muss. Nach den Massakern von Butscha, Irpin oder Hostomel sollten diesbezüglich zwar eigentlich alle Antworten auf dem Tisch liegen. Auch die gesetzlosen Zustände im russisch besetzten Donbass sind – etwa durch die Berichte des ukrainischen Journalisten Stanislav Asseyev – längst bekannt. Das Grauen russischer Besatzung – die Folterkeller, der Terror gegen die Zivilbevölkerung, der Raub von Neugeborenen – wurde auch nach der Befreiung Chersons vielfach dokumentiert. Tschetschenien, Georgien, Syrien – eigentlich steht uns die menschenverachtende Natur des Putin-Regimes ja seit vielen Jahren deutlich vor Augen. Und dennoch hält sich insbesondere in Deutschland die Vorstellung, ein Waffenstillstand, eine Art Deal nach dem Motto „Land gegen Frieden“, würde den betroffenen Menschen tatsächlich so etwas wie „Frieden“ bringen.  

Schauen wir darauf, was Reinhard Merkel, emeritierter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie der Universität Hamburg, über die Annexion der Krim-Halbinsel und die momentanen Zustände dort schreibt:

„Völkerrechtwidrig war das russische Verhalten jedenfalls, wiewohl kein einziger Schuss fiel und niemand verletzt wurde. Doch seither steht die Krim unter einer russischen Administration, der die große Mehrheit ihrer Bevölkerung zustimmt. Aus der ehedem rechtswidrigen Okkupation ist der stabile Zustand einer befriedeten Ordnung entstanden.“

Woher weiß der Autor von der „großen Mehrheit“ der Bevölkerung, die all dem zustimmt? Wie kommt er auf die Idee, den „stabilen Zustand einer befriedeten Ordnung“ zu postulieren? Und selbst wenn sich eine Mehrheit fände, die die Annexion hinnimmt, sie womöglich sogar begrüßt, wäre dann von einer „befriedeten Ordnung“ zu sprechen, wenn Minderheiten in der Bevölkerung um ihre Menschenrechte gebracht werden?

Nariman Dzelial – zurzeit in russischer Haft – ist stellvertretender Vorsitzender des Medschlis der Krimtataren. Diese Volksvertretung hat in der Ukraine einen gesetzlichen Status und wurde von Russland verboten. Er schreibt:

„Seit 2014 sind ukrainische Staatsbürger auf der von Russland besetzten Krim einer gezielten und systematischen politischen Verfolgung durch den russischen Staat ausgesetzt. Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, der Aktivitäten gesellschaftlicher Vereinigungen, der Medien sowie Druck auf Journalisten und Anwälte und Verbote der Meinungsäußerung sind zum alltäglichen Leben der Gesellschaft der Krim geworden. Verwaltungsstrafen und Verhaftungen, Entführungen und Folter in den Kellern des FSB, gefälschte Strafsachen und das Fehlen einer echten Justiz sind die Antwort der russischen Behörden auf den Wunsch der Menschen, ihre Meinung zu äußern und ihre gesetzlichen Rechte und Freiheiten zu verteidigen.“

„Den Krieg beenden“

Angesichts dieser Zustände von einer „befriedeten Ordnung“ zu sprechen, ist schon ein starkes Stück. Doch da ist er wieder: Der deutsche Friedensbegriff, der eigentlich eine Friedhofsruhe beschreibt. Es ist interessant zu sehen, wie das entsprechende Denken gleichsam links wie rechts der Mitte resoniert. Während des Kosovo-Krieges der NATO im April 1999 forderte Alfred Dregger, von 1982 bis 1991 Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, am Ende des Zweiten Weltkriegs Hauptmann und Bataillonskommandeur, in einem F.A.Z.-Gastbeitrag, den Krieg zu „beenden“. Aus aktuellem Anlass erinnerte der Journalist Reinhard Müller kürzlich noch einmal an den Text Dreggers:

„Er begann mit dem Clausewitz zugeschriebenen Bonmot, man kenne von jedem Krieg den Anfang, aber nicht das Ende. Und dass der Krieg ein Prozess sei, der jederzeit unter politischer Kontrolle gehalten werden müsse. «Die Nato greift nunmehr seit fast zwei Wochen aus der Luft Jugoslawien an. Das war der Anfang eines Krieges, von dem niemand zu wissen scheint, wie er beendet werden soll.» Der Anfang und Auslöser des Krieges war allerdings die mit Vernichtungsabsicht geführte Vertreibung der Kosovo-Albaner, der die NATO Einhalt gebieten wollte. Diese Katastrophe, so schrieb Dregger selbst, sollte verhindert werden. Er erkannte auch, dass Milosevic trotz der Luftangriffe der NATO weitermordete. Und fragte schließlich: «Soll die Nato wirklich weiterbomben angesichts dieser verhängnisvollen Entwicklung – bis etwa der letzte Kosovo-Albaner aus dem Amselfeld geflohen ist?» Der Ausweg aus dieser Lage könne, so Dregger, nur politisch sein. Ihn in «immer weiterer militärischer Eskalation» zu suchen, führe ins Verhängnis. Ein Krieg, der das Gegenteil dessen bewirke, was er politisch bezwecken sollte, «muss beendet werden».“ 

In gewisser Weise ist Dreggers Sichtweise folgerichtig. Bereits 2006 hatte der US-amerikanische Publizist Paul Berman („Idealisten an der Macht“) den Kosovokrieg als „Krieg der 68er“ bezeichnet: „Neben Joschka Fischer als deutscher Außenminister waren dies etwa Bernhard Kouchner als Leiter der UN-Übergangsverwaltung des Kosovo, Javier Solana als NATO-Generalsekretär oder der deutsche General Klaus Reinhard als NATO-Kommandeur. Berman attestiert ihnen, dass sie die richtigen Lehren aus der Geschichte zogen, sich angesichts des Wütens Miloševićs nicht hinter einem bequemen Pazifismus versteckten, sondern ihre humanitären Ideale offensiv vertraten.

Dass Dregger mit einem solchen, im Namen der Menschenrechte geführten Krieg wenig anfangen konnte, überrascht nicht bei dem Vorsitzenden der notorischen „Stahlhelm-Fraktion“ innerhalb der Union. Ebenso wenig überrascht, dass der entsprechende Riss auf der anderen Seite des politischen Spektrums, bei der politischen Linken, dort entstanden ist, wo das „Nie wieder!“ nicht als „Nie wieder Krieg!“, sondern als „Nie wieder Völkermord“ interpretiert wurde; wo Kriegseinsätze in der Not nicht trotz, sondern „wegen Auschwitz“ geführt werden.

Einen „Frieden“ im Kosovo unter der Herrschaft des serbischen Diktators hätte niemand gutheißen können, dem die Menschenrechte etwas bedeuten. Doch wo verläuft die Linie, ab wann ein Frieden selbst auf Kosten der Freiheit und des Rechts auf Unversehrtheit an Leib und Leben erstrebenswert ist? Gegenüber Russland wird oftmals mit den unverhältnismäßig hohen Kosten argumentiert, die ein fortwährender Kampf gegen seine zahlenmäßige Übermacht zeitigen würde; vom Abwurf einer Atombombe ganz zu schweigen. 

„Die Würde des Selbstzwecks“

Doch welches Kriterium wollen wir abseits solcher extremen Beispiele anlegen? Lassen wir uns auf ein Gedankenexperiment ein: Das einer perfekten Ordnung, sozial und gerecht – nur ab und zu wird jemand abgeholt, der sich politisch zu weit aus dem Fenster gelehnt hat. Wäre das akzeptabel oder erstrebenswert? Sicher nein. Es spricht für die Brillanz des Grundgesetzes, gleich im ersten Artikel die Würde des Menschen als unantastbar zu postulieren (ohne freilich – mit dem Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde gesprochen – darlegen zu können, warum das eigentlich so ist beziehungsweise so sein sollte). Durch diese geniale Setzung verbieten sich jegliche Überlegungen, den Menschen als Mittel zu einem Zweck zu definieren. Jedem anderen solle, so bereits Kant, „die Würde des Selbstzweckes“ zugebilligt werden. 

Wie anders die Gedanken, die bei den großen Menschenexperimenten des 20. Jahrhunderts tragend waren. In Nazi-Deutschland setze man mit dem Ermächtigungsgesetz kurzerhand die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung außer Kraft und schuf eine neue Rechtsordnung, die mit dem hergebrachten abendländischen Schutz individueller Rechtsgüter nichts mehr gemein hatte. Vielmehr kreiste jetzt alles um das „völkische Prinzip“, um „Artreinheit“, die „Herrenrasse“ und um „Untermenschen“. Stellvertretend für das Menschenbild der Nazis stehen diese Worte Heinrich Himmlers, der sich 1940 „zur Behandlung der Fremdvölkischen im Osten“ auslässt:

„Eine grundsätzliche Frage bei der Lösung all dieser Probleme ist die Schulfrage und damit die Sichtung und Siebung der Jugend. Für die nicht-deutsche Bevölkerung des Ostens darf es keine höhere Schule geben, als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein, und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich. Außer dieser Schule darf es im Osten überhaupt keine Schule geben. […] Die Bevölkerung des Generalgouvernements setzt sich dann zwangsläufig, nach einer konsequenten Durchführung dieser Maßnahmen, im Laufe der nächsten zehn Jahre aus einer verbleibenden minderwertigen Bevölkerung […] zusammen. Diese Bevölkerung wird als führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung stehen und Deutschland jährlich Wanderarbeiter und Arbeiter für besondere Arbeitsvorkommen (Straßen, Steinbrüche, Bauten) stellen.“

Worte diese, die noch heute schwer zu fassen sind. Und auch auf Seiten der anderen totalitären Ideologie des Zeitalters war die Menschenwürde faktisch abgeschafft. Arthur Koestler lässt in „Sonnenfinsternis“ – dem großen politischen Roman des 20. Jahrhunderts – einen Vernehmungsbeamten Folgendes über die Massenliquidation vermeintlich „unzuverlässiger Elemente“ sagen: 

„Es war eine chirurgische Operation, die ein für alle Mal durchgeführt werden musste; aber in den guten alten Zeiten vor der Revolution sind in Dürrejahren ebenso viele vor Hunger verreckt, bloß dass ihr Tod sinn- und zwecklos war. Die Opfer der Überschwemmungen in China gehen mitunter in die Hunderttausende. Die Natur ist so großzügig mit ihren sinnlosen Experimenten an der Menschheit, und du wagst es, der Menschlichkeit das Recht abzusprechen, an sich selbst zu experimentieren?“

Es finden sich hierzulande Anklänge an dieses Denken, wenn etwa Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) immer wieder die gewaltige Aufbauleistung der Chinesen in den letzten vierzig Jahren als Argument gegen den Vorwurf der brutalen Diktatur in Anschlag gebracht hat, um die es sich bei dem kommunistischen Regime ohne Zweifel handelt. Der aktuellen deutschen Rechtsprechung liegen solche Erwägungen zum Glück fern. Dies äußerte sich pointiert beim Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz (2006). Gegen das Szenario, ein vollbesetztes Flugzeug, das durch Terroristen beispielsweise auf ein Fußballstadion gelenkt wird, dürfe abgeschossen werden, wurde unter anderem eingewandt, dass diese Ermächtigung nicht mit dem „Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG)“ vereinbar sei, „soweit von dem Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden“.

Eine deutlichere Abkehr von der Betrachtung des Menschen als Mittel zum Zweck ist kaum denkbar. Nicht einmal, wenn klar ist, dass ohne Eingreifen (womöglich) mehr Menschen sterben würden, dürfen laut höchstrichterlicher Rechtsprechung Unschuldige, um dies zu verhindern, „geopfert“ werden. 

„Ich sehe das nicht“

Übertragen wir diese Gedanken nun auf die Situation in der Ukraine, so fällt auf, dass es für viele Deutsche dennoch akzeptabel wäre, Millionen von Menschen, die sich auf dem Weg in die westlichen Bündnisse gemacht haben, im Interesse eines postulierten „großen Ganzen“ einer brutalen Diktatur auszusetzen, in der ihr Recht auf Leben und ihre Menschenwürdegarantie erkennbar gefährdet sind. Die emphatische Hinwendung der ukrainischen Bevölkerung nach Westen, der Versuch der Durchsetzung demokratischer Standards unter widrigsten Umständen, der Einsatz von Leib und Leben für ein Ideal, eine Zukunft in Freiheit – all das resoniert von Wagenknecht bis Weidel, von Schwarzer bis Welzer, von Precht bis Augstein überhaupt nicht. Letzterer offenbarte eine geradezu grotesk anmutende Ignoranz, als er im Juli 2022 gegenüber Deutschlandfunk Kultur erklärte: „Was wir die ganze Zeit tun, ist diesen Krieg zu verlängern. Wir vermitteln den Ukrainern das Gefühl, dass sie fort für eine sinnvolle Sache kämpfen – und ich sehe das nicht.“

Der ukrainische Widerstand wird in diesen Kreisen als atavistische, gleichsam vorzivilisatorische Regung abgetan. Heldenmut? Opferbereitschaft? Tapferkeit? Kampfkraft? Das war doch alles vor der „postnationalen Konstellation“ (Habermas). Es fehlt an den Rändern des politischen Spektrums an einem Verständnis für den Wert erkämpfter Freiheit, ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, eigene Werte notfalls auch gewaltsam zu verteidigen sowie insgesamt die feste Verankerung im politischen Projekt des Westens, das – in der klassischen Definition von Heinrich-August Winkler – auf unveräußerlichen Menschenrechten, Gewaltenteilung, Volkssouveränität und repräsentativer Demokratie beruht. Doch bestenfalls kann man sich im querfrontlerisch anmutenden Lager der „Friedens“-Freunde vorstellen, die Gegenwehr der Ukrainer sei „künstlich“ erzeugt, gleichsam „im Hintergrund“ durch die USA gesteuert und letztlich „inszeniert“. Deshalb auch immer wieder die Bezeichnung des ukrainischen Präsidenten Selenskij als „der Schauspieler“ (dass dieser Jude ist, macht das antisemitische Stereotyp komplett). 

Jenseits der Ostdrift

Die mangelnde Verankerung im politischen Westen – man könnte auch sagen: Die Ostdrift – zieht sich bis in die politische Mitte hinein, auch wenn – was in der gegenwärtigen weltpolitischen Konstellation eine Art Lackmustest darstellt – die klassischen bundesrepublikanischen Parteien sich mehr oder weniger deutlich zur Unterstützung der Ukraine bekennen. Wie ist das zu erklären? Nach über siebzig Jahren Frieden und Freiheit zumindest im westlichen Landesteil, sollten die Vorteile der Westbindung deutlich geworden sein. Doch Zweifel bleiben, vorwestlich-altdeutsche Sinnfragmente halten sich erstaunlich hartnäckig und sind in jeder neuen Krise sofort abrufbar. Man kann mit ihnen mobilisieren, Diskurse drehen, parlamentarische Abläufe delegitimieren, „Aufstände“ proklamieren. 

Es waren die Historiker Timothy Snyder und Tony Judt, die sich mit diesem Sachverhalt vor über zehn Jahren in dem Gesprächsband „Nachdenken über das Jahrhundert“ (2012) auseinandergesetzt haben. Am „Habermas’schen Konstitutionalismus“, der als Gegenentwurf zur Shoah angelegt ist, missfiel ihnen, dass er ohne positive Herleitung stets gefährdet bleibt – anders als etwa der englische oder US-amerikanische Republikanismus, der sich gleichsam naturrechtlich begründen lässt. Anders gewendet: Bedarf es wirklich erst eines Zivilisationsbruchs, um von den Segnungen demokratischen Ausgleichs überzeugt zu werden? Bei einem solchen „Republikanismus der Angst“ (Judith Shklar) scheint deutsche Bundesregierungen stets eine unausgesprochene „Drohung des Volkes“ anzuleiten: „Wenn ihr (dauerhaft) nicht so macht, wie wir wollen, knüpfen wir an Ideen aus der Zeit vor 1945 an.“ 

In diesem Kontext scheint Putin derzeit wie die Personifikation dessen, was an antiwestlichen Traditionen zur Verfügung steht, dessen „Führerregime“, wie eingangs mit den Worten Benno Ennkers zitiert, „willkürlich auf ein ganzes Arsenal von Terror, Krieg und Propaganda der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts“ zurückgreift. „Putin hilf!“ lautet seit den Tagen von PEGIDA ein oft gehörter Slogan auf den Demonstrationen von Fremdenfeinden, Querdenkern, Querfrontlern und sogenannten Friedensaktivisten. Dass man in einem solchen Milieu kein Problem damit hat, Teile der Ukraine dem Moskauer Regime auszuliefern, muss nicht weiter überraschen. Doch es sind immer noch Minderheiten, die so denken, auch wenn ihre trüben Absichten bis in die politische Mitte hinein diffundieren. Die eigentliche Herausforderung besteht für die Mehrheitsgesellschaft darin, so hat es Timothy Snyder ausgedrückt, „Erinnerungspolitik zu einer echten Ostpolitik“ zu machen; hinzugefügt werden darf der Wunsch, dass die Gesellschaft in Ihrer Gänze zum Geist von Artikel 1 des Grundgesetzes aufschließt, dass die Rede von der unantastbaren Würde des Menschen, des Rechts auf Leben und der Menschenwürdegarantie in die mentalen Tiefenschichten der Bevölkerung vordringen möge, um von dort nicht mehr verrückt zu werden. Die Lehren der Vergangenheit könnten dann keineswegs sein, Angegriffene ihrem Schicksal zu überlassen, sondern vielmehr, dass die Idee der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte immer und überall Unterstützung finden müssen. 

Das oftmals geforderte Bekenntnis zu „unseren Werten“, das insbesondere Migrant:innen hierzulande abverlangt wird, wäre umso überzeugender, wenn Deutschland selbst diese Werte überzeugend nach außen vertritt. Das muss nach Lage der Dinge heißen: Feindschaft zu Putin, Unterstützung der Ukraine – mit allem, was sie braucht, um die russischen Invasoren aus dem Land zu drängen. 

 BILD CREDIT: Auf einer Pegida-Demo am 5.1.2015 in Dresden, Foto: blu-news.org /​ CC BY-SA

4 Kommentare zu „Wie schlimm ist Diktatur? Deutsche Befindlichkeiten und der Charakter des Putin-Regimes

  1. Das ist eine ganz hervorragende Betrachtung, das Beste, was ich aus westlicher bzw. speziell moderner „deutscher“ Sicht seit langem gelesen habe. Die Grünen in der Folge von Fischer mit ihrer angeblichen „Kriegspolitik“, inzwischen auch unter Akzeptanz der westlichen Werte (halt auch der damit irgendwie verbundenen „Marktwirtschaft“) kommen als Folge der 68er erstaunlich gut weg.

    Ich wüsste sehr gerne, was Habermas hier entgegnen würde.

    Die nahezu blind „Friedensbewegten“ (Sahra, Alice&Alice, Höcke,…) mit ihrem Hass auf USA/GB und letztlich „einfach“ den westlichen Kapitalismus, speziell den des US-amerikanischen „Weltpolizisten“ und Hegemon, aber ohne handfestes, von einer Bevölkerungsmehrheit unterstütztes, Gegenmodell, nehme ich in ihrer Einseitigkeit und Voreingenommenheit sowie Selbstbeweihräucherung nicht ernst.

  2. Das ist eine gute Analyse „Deutscher Befindlichkeiten“. Ich habe selbst mehrere Jahre in Russland gelebt und an einer Universität gearbeitet. Das Ende der Perestrojka „durfte“ ich noch miterleben. Die jetzigen Entwicklungen in dem Land gehen mir pwesönlich sehr nahe. Und genau deshalb: Die Leichtfertigkeit, mit der den Menschen in der Ukraine und auch vielen tausenden Menschen in Russland, das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie abgesprochen wird (gerade auch von so genannten „linken“) ist extrem erschreckend und grenzt an Rassimus. „Slawen lieben die Knute“ heißt das im Klartext. Aber Russland ist ein höchst widersprüchliches Land. Und die angeblichen „Russland-FreundInnen“ schlagen sich hier eindeutig auf die „dunkle Seite der Macht.“ .

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