Liberale „Mea-Culpa-Literatur“, wie der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller sie nannte, hat Konjunktur. Die weltpolitischen Fehlentwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte bieten dazu ja auch reichlich Anlass. Der in Würzburg geborene Peter R. Neumann, der in London eine Professur für Sicherheitsstudien innehat und 2021 im Kompetenzteam von Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) als „Terrorexperte“ fungierte, legt nun eine jüngere Zeitschichte in Form einer Abrechnung mit der „liberalen Moderne“ vor. Dabei geriert er sich gleichsam als Anti-Fukuyama und verdammt den Fortschrittsoptimismus zu Beginn der 1990er Jahre, der alle späteren Fehlentwicklungen überhaupt erst ermöglicht habe. So sei das Scheitern der „liberalen Moderne“ verantwortlich für das Aufkommen der „reaktionären Moderne“ (Russland) und auch der „autoritären Moderne“ (China).
So weit, so übersichtlich – und auch problematisch. Denn alleiniger Akteur scheint hier nach wie vor „der Westen“ zu sein, während alle anderen stets nur reagieren. Neumann bietet Eurozentrismus im neuen Gewand. Zwar würde niemand bestreiten, dass ab Beginn der 2000er Jahre in den Hauptstädten des Westens insbesondere in punkto Nahostpolitik und Entgrenzung des Finanzkapitalismus haarsträubende Fehler begangen wurden, die ganze Krisenkaskaden nach sich zogen. Doch darf der autochthone Anteil von Phänomenen wie Putin oder Xi nicht kurzerhand auf das Konto des Westens verbucht werden. Dass Russland im Gegensatz zu China wiederum nicht als „Systemkonkurrent“ tauge, sondern lediglich etwas „geopolitische Unruhe“ stifte, dürften Lesende des Zeitenwendejahres 2022 mit Verwunderung quittieren. Etwas mehr als Unruhe ist ja gerade schon los auf der Weltbühne.
Auch stellt sich bei einem Konstrukt wie „dem Westen“, Neumanns zentralem Adressaten, stets die Frage der Agency: Wer sind eigentlich die Handelnden und liegen oder lagen sie allesamt falsch? Welche strukturellen Gründe mögen hinter einzelnen Fehlentscheidungen stecken, die sich eben nicht bündig durch menschlich-allzumenschliche Regungen wie „Übermut“, „Naivität“ oder „Optimismus“ erklären lassen? Am Ende handelt es sich hier in weiten Teilen um eine Kritik, die hinreichend unspezifisch ist, um einhelliges Kopfnicken zu ernten, jedoch keine konkreten Verantwortlichkeiten benennt.
Da gerät Selbstkritik schnell zur Nabelschau. Während im atlantischen Raum der Populismus seinen Aufstieg begann, waren es doch die Fahnen der Europäischen Union, die 2014 auf dem Maidan in Kiew wehten. Während in den Metropolen Europas selbstreferenzielle Debatten über Finanzausgleiche und Finalitäten im Integrationsprozess geführt wurden, träumten Millionen Menschen im Osten des Kontinents davon, solche Probleme zu haben. Hätte es jene vielbeschworene Hybris des Westens gegeben, wäre die Ukraine nicht längst Teil von EU und NATO? Und hätte man in einem solchen Fall zugewartet, während China und Russland ihren Einfluss in Südosteuropa ausbauten, und dabei sechs EU-Beitrittskandidaten in einen langen Balkan-Winterschlaf verfallen lassen?
Eine der herausragenden Qualitäten demokratischer Ordnungen ist ihre Fähigkeit zur Selbstkritik und zur Selbstkorrektur. Streitschriften wie die vorliegende spielen in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle. Allerdings müsste dann am Ende mehr dabei herauskommen. „Worauf es jetzt ankommt“, heißt es vielversprechend gegen Ende. Statt einer sich selbst zerstörenden „liberalen Moderne“, in der zu viel gegendert werde und eine „aktivistische Linke“ die Rechte provoziere, bedürfe es einer „nachhaltigen Moderne“. Wodurch diese sich auszeichnet? Sie sollte unter Beibehaltung ihrer „liberalen und pluralistischen Werte“ in der Umsetzung „ehrlicher, pragmatischer und inklusiver“ sein. Ganz ehrlich: Wer würde da widersprechen?
Peter R. Neumann: Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört, Rowohlt Berlin 2022, 329 Seiten, 24,00 Euro.