Das Oeuvre des ehemaligen Softwareentwicklers und Marketingsmanagers Ulf Schiewe, der erst mit Ende 50 zum Schreiben gefunden hat, ist mittlerweile stattlich angewachsen. Worum geht es darin? Nun, primär darum, in die Welten des Mittelalters abzutauchen, Wikinger, Normannen und Kreuzritter zu begleiten, Zusammenhänge europäischer Geschichte zu verstehen, Abenteuer zu erleben, großen Schlachten und Friedensschlüssen beizuwohnen, und bei all dem natürlich Liebe, Tod und Drama zu begegnen. Doch wo anfangen? Am erfolgreichsten war sicher „Die Kinder von Nebra“ (2020), ein Roman zur Entstehung der berühmten Himmelsscheibe, in dem Schiewe es versteht, eine ganze Zivilisation zu imaginieren, die vor rund 4.000 Jahren (!) auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt und Thüringen bestanden haben mag. Das ist spannend, rührend, oft auch erschreckend brutal und was kollektiv geglaubte Mythen angeht, auch zeitgemäß. Ein Buch, das man ungern aus der Hand legt, bis die Geschichte in einem gigantischen Finale zu Ende erzählt ist.
Was Einzeltitel angeht, ist auch der Geschichtsthriller „Der Attentäter“ (2019) zu empfehlen. Die Rede ist von Gavrilo Princip, dem Mann, durch dessen Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Ehefrau Sophie im Juni 1914 der Lauf der Weltgeschichte für immer verändert wurde. Wie aber kann man einen Thriller spannend komponieren, dessen Ende bereits bekannt ist? Schiewe zeigt mit viel k.u.k.-Kolorit, zeitgenössischen Diskursen und wohl eher wenig bekannten Einsichten in serbische und bosnische Gegebenheiten, dass so etwas ganz hervorragend gelingen kann. Am Ende hat man fast ein wenig Mitleid mit dem tuberkulosekranken Todgeweihten Princip. Er und seine Freunde gerieten in Machinationen, die sie selbst kaum überblicken konnten. Aber ist es am Ende nicht eigentlich immer so?
Das ganz große Geschichtsrad wird im 800-Seiten-Epos „Land im Sturm“ (2018) gedreht, der Geschichte einer Familie im Sturm der Zeiten. Wobei es sich nicht um einen klassischen Familienroman handelt. Vielmehr bildet ein ungarischer Säbel den roten Faden, der einzelne Epochen miteinander verbindet. Wir sind dabei auf dem Lechfeld 955, als der spätere Kaiser Otto die Ungarn besiegt. Wir nehmen am hochmittelalterlichen Salzhandel über die Ostsee teil und sehen die Entstehung der Hanse. Wir erleben den Wendenkreuzzug 1147 gegen „heidnische“ Slawen. Es geht über die Grauen des Dreissigjährigen Krieges bis hin zur Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und jedes Mal, wenn eine Geschichte vorbei war, war ich ein wenig traurig und verspürte eine gewisse Unlust, mich auf die nächste Figurenkonstellation einzulassen – nur um dann wenige Seiten später erneut in der Lektüre zu versinken. Ein Schmöker, wie er im Buche steht.
Ebenso wie „Bucht der Schmuggler“ (2015), das uns in die Welt der Piraten entführt. Ursprünglich als Serie unter dem Titel „Gold des Südens“ erschienen, verbindet Schiewe hier spielerisch die Welt des Schwarzhandels in den spanischen Kolonien mit dem Schicksal eines Bremer Kaufmanns, der sich, um der Haft im Schuldturm zu entgehen, auf den Weg in die weite Welt macht, um sein Familienvermögen wiederherzustellen – und dabei auch noch die Liebe findet. Um warum auch nicht?
Die große Liebe findet auch der titelgebende Normanne in der bislang vierteiligen Reihe (2013-2016), die sich mit den Geschehnissen im südlichen Italien des 11. Jahrhunderts beschäftigt, als jene Nachfahren der Wikinger sich dort festsetzen konnten und ein eigenes Königtum etablierten. Ein Wort der Warnung: Alle Bände sind pures Suchtmaterial, die der Rezensent teilweise eher inhaliert als gelesen hat und die manchmal vor Spannung im Stehen genossen werden mussten. Wenn der junge Gilbert seine geliebte Gerlaine aus den Fängen der Sarazenen von der Insel Sizilien befreit, kann man streckenweise nur den Atem anhalten. Und wenn in Band 4 schließlich Roger aus dem Adelsgeschlecht der Hautevilles stärker in den Vordergrund tritt, dann wird klar: Sizilien muss noch erobert werden. Wo bleiben die Nachfolgebände?
Definitiv abgeschlossen hingegen ist die Trilogie „Herrscher des Nordens“ (2017-2018) um den Wikingerkönig Harald, die uns von den Gestaden Norwegens über die Kiewer Rus bis nach Konstantinopel führt, wo es der Protagonist zum Anführer der gefürchteten Waräger-Garde des byzantinischen Kaisers bringt, bis er schließlich in den Norden zurückzukehrt, um sein Geburtsrecht durchzusetzen. Mit Erfolg. Hätte sich Harald doch nur mit dem Königreich Norwegen zufriedengegeben! Doch im Jahre 1066 verspürt er mit reichlich fadenscheinigem Anspruch den Drang, sich am Kampf um den englischen Königsthron zu beteiligen und findet schließlich in der Schlacht von Stamford Bridge den Tod – womit dann auch dieses facettenreiche Wikinger-Epos endet.
Den Dreikampf um die englische Krone entschied bekanntlich ein anderer für sich: Wilhelm, Herzog der Normandie, den man später „den Eroberer“ genannt hat. Ihm widmet Schiewe sein aktuelles Werk: „Der eiserne Herzog“ (2022). Hart, aber gerecht, muss dieser erst seine Machtposition in der nordwestfranzösischen Heimat festigen, bis er den Ärmelkanal überqueren kann, um sich in der legendären Schlacht von Hastings (1066) gegen Konkurrent Harald Godwinson durchsetzen. Ein echter Schiewe, der mit mittlerweile charakteristischen Trademarks aufwartet, und erneut zu überzeugen weiß.
Außer Konkurrenz laufen die mittlerweile vier Bände aus der Familiengeschichte der provenzalischen Familie Montalban. Der Erstling „Bastard von Tolosa“ aus dem Jahre 2009 (gleichzeitig Schiewes Debut als Schriftsteller) ist ein echter Brocken und weist neben vielen faszinierenden Einblicken in die Mittelmeerwelt der Kreuzzüge durchaus einige Längen auf. „Die Comtessa“ (2011) ragt aus der Reihe heraus, da hier Handlungen und Personen am überzeugendsten verdichtet werden und die Geschichte eine permanente Sogwirkung auslöst. „Die Hure Babylon“ (2012) schien den Abschluss der Reihe zu bilden und entführt erneut ins kurzlebige Königreich Jerusalem. Die Handlung fasert am Ende etwas aus, lässt jedoch dann keine Wünsche offen. Mit „Die Mission des Kreuzritters“ (2021) begab sich Schiewe dann nochmal zu den Montalbans, die ihm keine Ruhe zu lassen scheinen. Eine so späte Fortsetzung zeigt, dass er gelegentlich durchaus an alte Themen wiederanknüpft, was wiederum Hoffnung auf eine längst überfällige Fortsetzung der Normannen-Reihe macht.
Man darf gespannt sein, was dem Vielschreiber Schiewe im nächsten Jahr wieder einfällt. Dass es dann erneut unterhaltsam und spannungsgeladen zugehen wird, dürfte jetzt schon feststehen.
ich denke mal das Attentat auf Ferdinand war 1914, oder?
Oh ja, völlig richtig. Ist korrigiert.