Eigentlich sollte das Thema längst durch sein. Schon früh, nämlich 2016, hatte der Philosoph Jürgen Habermas zu „Dethematisierung“ geraten. Und die gelinge am besten durch die Thematisierung eines anderen, des seiner Ansicht nach eigentlichen Problems: „Wie erlangen wir gegenüber den zerstörerischen Kräften einer entfesselten kapitalistischen Globalisierung wieder die politische Handlungsmacht zurück?“ Aber es hilft ja nichts. Die AfD ist da – und bleibt wohl. Elf Prozent bei der letzten Landtagswahl in Niedersachsen, ohne Programm, ohne halbwegs bekannte Kandidaten, ohne eigentliche Parteiorganisation – das muss schon besorgen. Und in den östlichen Bundesländern kündigt sich – mal wieder? immer noch? – neues Unheil an.
Der FAZ-Journalist Patrick Bahners hat jetzt eine gehaltvolle Studie zum Phänomen AfD vorgelegt, die ihresgleichen sucht. So multiperspektivisch reflektiert, so sehr aus den Vollen der Geistes-, Demokratie-, Rechts-, Parteien- und Politikgeschichte dieses Landes schöpfend, hat noch niemand die Rechtspopulisten unter die Lupe genommen – am allerwenigsten wohl sie sich selbst. Dabei erfahren Lesende nicht nur viel über historische Anknüpfungspunkte und Kontinuitäten sowie über lange Jahre brachliegende Ideologiebestände, die dann plötzlich wieder aufkeimen und Anschluss finden, sondern auch über das Parteiensystem im Wechselspiel zwischen Politik und Gesellschaft insgesamt.

Dreh- und Angelpunkt ist der „Testfall Thüringen“, als im Februar 2020 erstmals ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde. „Auch und gerade“ künftige Konstellationen mit den Rechtspopulisten als „ostdeutsche Regionalpartei“ hätten das Potential, „die demokratischen Herrschaftsverhältnisse in der Bundesrepublik aus dem Gleichgewicht zu bringen“. Bahners möchte „präzise bestimmen, worin die Gefährdung der Demokratie“ durch die AfD „eigentlich besteht“. Er arbeitet hierfür mit dem Begriff des Nationalismus, was bislang erstaunlich selten geschah. Populismus, Faschismus, Rechtsradikalismus oder -extremismus bis hin zum Vorwurf, im Grunde Neonazis zu sein – all das hatte man bereits gelesen. „Nationalismus“ hingegen erlaubt es, Kontinuitäten aufzuzeigen, wo andere Begriffe versagen.
Was laut Bahners nicht hilft, ist die etwas bemühte Unterscheidung zwischen „demokratischen“ und „undemokratischen“ Parteien, mit der die AfD gemeinhin ausgegrenzt werden soll: „Die politische Auseinandersetzung mit der radikalen Rechten muss sich der Tatsache stellen, dass die Mittel der nationalistischen Massenorganisation zur Demokratie gehören und die demokratische Rhetorik der Nationalisten nicht einfach als Camouflage abgetan werden kann. Diese Parteien verdienen, bekämpft zu werden, obwohl sie demokratisch sind.“
Und was die Thüringer Konstellation angeht, wo liegen da die Gemeinsamkeiten des temporären „Kemmerich-Bündnisses“ aus AfD, CDU und FDP? „Idealvorstellungen einer sozialen Homogenität, deren Konservierung Hauptzweck der Politik sein soll, bestimmten die Programmatik der AfD, begegnen aber auch bei Anhängern und Funktionären der CDU, insbesondere in den ostdeutschen Landesverbänden. Und ein Liberalismus der Selbstbehauptung gegen schikanöse staatliche Normierung, wie ihn die FDP dort predigt, wo sie zum Regieren nicht gebraucht wird, weist Affinitäten zu dem geistigen Widerstand auf, den die Rechten der Staatsgewalt so lange zu leisten gewillt sind, wie sie nicht in ihren Händen ist.“
Es lohnt, die letzten Sätze mehrmals zu lesen. Solche mit spitzer Feder niedergeschriebenen Textjuwelen finden sich im Buch zuhauf. Dabei wird auch das weitere geistige Umfeld der AfD in den Blick – besser: ins Visier – genommen; so etwa Forschende wie der Politikwissenschaftler Werner Patzelt oder die Soziologin Cornelia Koppetsch, deren fehlende Distanz – oder zu große Nähe – zum erforschten Subjekt in den vergangenen Jahren offenbar wurde. Während Patzelt, wie Bahners hier zeigt, sich vom Beobachter zusehends zum Aktivisten für die rechte Sache wandelte, urteilte bereits der Historiker Bodo Mrozek über Koppetschs „Gesellschaft des Zorns“ (2019), diesem Opus Magnum der liberalen Selbstbezichtigung, es befeuere eine „Feuilleton-Debatte, die sich in vielen Einzelaspekten selbstkritisch am eigenen Milieu abarbeitet, in der Summe aber den Eindruck eines linksautoritären Meinungsklimas behauptet.“
Es sind solche ins Mark treffende Beobachtungen, die Bahners dann zu einer brillanten Pointe bündelt: „Solange sich die Regierenden das Volk nach dem Bild vorstellen, das die populärwissenschaftliche Legende von den Abgehängten entwirft – als Kollektiv der Ängstlichen, Missvergnügten und Bockigen, denen die Wahrheit über den sozialen Wandelt nicht zugemutet werden könne –, solange säen sie selbst das Misstrauen, das der Nationalismus erntet.“
Mit einer einzigen, einschneidenden Parade wird hier eine ganze Reihe jener Autor:innen der „ominös anschwellenden Traktatliteratur“ widerlegt, die die Schuld für den Aufstieg des neuen Nationalismus vor allem auf der linksliberalen Seite des politischen Spektrums suchen. Denn welche Bücher waren es denn, die seit Brexit, Trump & AfD hierzulande gelesen wurden? J. D. Vance („Hillbilly Elegie“) ist mittlerweile selbst ein Trumpist. Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) hat sich in die Reihen der Linkspopulisten und Putin-Freunde um Jean-Luc Mélenchon eingereiht. Wenn das ihre Lösungen sind, können dann ihre Analysen aus liberaldemokratischer Sicht so viel wert gewesen sein? Auch hierzulande hat sich eine ganze Phalanx von Autoren, die oftmals in der Grundwerte-Kommission der SPD oder bei der Friedrich-Ebert-Stiftung angesiedelt sind, darauf versteift, den Aufstieg des Rechtspopulismus einem ominösen linksliberalen Elfenbeinturm anzulasten, auf dem den ganzen Tag nur gegendert und über Unisex-Toiletten debattiert, während über Essgewohnheiten und Fortbewegungsmittel der hart arbeitenden Bevölkerung die Nase gerümpft werde.
Stellvertretend für so viele, die dieses Narrativ dankbar aufgreifen, steht der Berliner Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. In der TV-Sendung Markus Lanz (ZDF) gab er zu den Phänomenen hinter der Reichsbürger-Razzia vom Dezember 2022 folgendes zu Protokoll:
„Wir sind längst eine Zwei-Drittel-Demokratie. Das untere Drittel ist quasi weggebrochen. Dieses untere Drittel fühlt sich durch eine Art linksliberaler Arroganz ausgegrenzt, bevormundet, kulturell beherrscht. Beispiel: Wer sich in der Geschlechterfrage nicht zeitgemäß oder ungeschickt ausdrückt, ist sofort ein Sexist. Und wer Immigration und offene Grenzen ablehnt, ist sofort ein Rassist.“
Die oben erwähnte „populärwissenschaftliche Legende von den Abgehängten“ – hier ist sie in nuce. Bahners hingegen treiben eigene Charakteristika, inhärente Dynamiken der AfD um, die ohne linksliberale Verfehlungen auskommen. Die Affinität zu Verschwörungserzählungen etwa, oder die verschiedenen Gestalten des neuen Nationalismus wie der ins Zynische abgleitende Realismus, der Republikanismus, der Paternalismus und auch der Anti-Moralismus, die allesamt eine „illoyale Opposition“ ergeben, die sich auch in der großen Putin-Nähe äußert, ihrerseits Ausdruck eines „populistischen Wilhelminismus“.
Spiritus Rector hinter dieser bemerkenswerten Symbiose aus „Spaziergängern“ und „Biedermännern“, die nicht etwa „alte CDU“ ist, sondern viel weiter früher in der deutschen Geschichte anknüpft, teilweise im 19. Jahrhundert, ist der nunmehrige Ehrenvorsitzende Alexander Gauland, der im Buch als Stratege eine tragende Rolle einnimmt. Gegen die oft gehörte Legende einer ursprünglich harmlosen Anti-Euro-Partei, die im Laufe ihres nunmehr zehnjährigen Bestehens ins Rechtsradikale abgedriftet ist, urteilt Bahners, dass „das nationale Ressentiment“ von Anfang an ein „entscheidendes Motiv“ war, „eingeschlossen die Kritik an der Vergangenheitsbewältigung, die verdächtigt wird, mit dem deutschen Selbstbewusstsein auch die deutsche Wirtschaftskraft zu ruinieren.“
In Variation zum oben erwähnten Befund: Diese Partei verdient es, bekämpft zu werden, obwohl sie demokratisch ist. Für diesen Kampf liefert das Buch reichlich geistige Munition. Dass all dies ein Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, mithin dem Flagschiff des Konservatismus, besorgt, zeugt von Trennschärfe und Urteilskraft inmitten eines Meeres von Desinformation und millionenfachen Bemühungen, eben diese Abgrenzungen in finsterer Absicht zu vernebeln.