Die Länder-Verstehen-Bücher des Klett-Cotta-Verlags lohnen fast immer, sind jedoch in der Regel recht dickleibig. Hier nun lediglich knapp zweihundert, schon ganz unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges geschriebene Seiten. Freiheitskampf als Grundthema der ukrainischen Geschichte. Wer auf der Suche nach einer konzisen Alternative zu den Standardwerken von Andreas Kappeler und Serhii Plokhy ist, der wird hier fündig.

Dass Putin gestoppt werden und die Ukraine die Solidarität des Westens verdient hat, dass die ukrainische Armee derzeit die Freiheit der westlichen Welt verteidigt – all das muss hier nicht erst hergeleitet werden, steht nicht ernsthaft zur Disposition, geht aus der lockeren, nicht streng chronologischen Geschichtsdarstellung zwingend hervor.

Da sind die wichtigsten Persönlichkeiten aus der ukrainischen Geschichte: Bogdan Chmelnyzkyj (1595-1657), der legendäre Kosaken-Hetman, der den gleichnamigen Aufstand gegen Polen-Litauen anführte; Iwan Masepa (1687-1708), ebenfalls Kosaken-Anführer, der den Seitenwechsel von Russland zu Schweden vollzog und in Moskau bis heute als Inkarnation ukrainischen „Verrats“ gilt; der Nationaldichter Taras Schewtschenko (1814-1861), der für die Ukraine das ist, was Shakespeare, Goethe oder Mickiewicz für ihre jeweiligen Länder sind; Mychajlo Hruschewskyj (1866-1934), Wiederbegründer der Nation nach dem Ersten Weltkrieg; Stefan Bandera (1909-1959), Partisanenführer und Faschist, in dessen Namen grausamste Massaker verübt worden und dessen Erbe bis heute polarisiert; der Stalin-Vertraute Lasar Kaganowitsch (1893-1991), Mitglied im Politbüro der KPdSU und mitverantwortlich für das Massaker von Katyń.

9783608965995

Ihre Biografien erzählen Geschichte, ebenso wie die historischen Orte, die im Buch aufgesucht werden. Identitätsstiftend wirkte ja nicht nur die olle Kiewer Rus, in der Hobbyhistoriker Putin den Ursprung allen Russischen erkennt. Identitätsstiftend wirkte auch ein Ort wie die Saporoschskaja Sitsch, die „Lichtung jenseits der Stromschnellen“. Es ist ja dramatisch: Mit dem Namen Saporischschja verbinden wir heute nur noch das größte Atomkraftwerk Europas, das fortwährend umkämpft wird sowie das kürzliche Fake-Referendum des Putin-Regimes. Dabei begann auf der Lichtung in früher Neuzeit Wegweisendes:

„Römisch-katholischer Glaube trifft hier auf orthodoxes Christentum und den Islam. Geflohene Leibeigene lernen desertierte Soldaten und entlaufene Häftlinge kennen. Geflüchtete aus dem Moskauer Reich, aus Polen, gar aus Frankreich, Italien und Deutschland begegnen sich in der Sitsch. Gemeinsam leben sie nach neuen Regeln der kosakischen Steppendemokratie.“

Ist das womöglich etwas verkitscht? Oder nicht doch eine Traditionslinie, die sich bis zum Kiewer Maidan zieht? Denn dieser zentrale Unabhängigkeitsplatz ist ja auch so ein geschichtsträchtiger Ort. Nicht weniger als dreimal in den letzten dreißig Jahren wurden von hier aus Regierungen gestürzt: 1990 in der sogenannten „Revolution auf Granit“, 2004 in der „Orangen Revolution“ und 2013/14 beim „Euromaidan“ – immer ging es um Unabhängigkeit und Freiheit, um die Loslösung aus russisch-totalitärer Hemisphäre.

Was die Tatsache jener nationalsozialistischen Verbrechen angeht, die in der Ukraine und nicht in Russland verübt wurden, dürfte in der deutschen Öffentlichkeit mittlerweile etwas mehr Klarheit herrschen. Doch die Stätten des „Holocausts durch Kugeln“, der Massenmorde in den ukrainischen „Bloodlands“ (Timothy Snyder), dürften noch weithin terra incognita sein. Die Massaker von Kamjanez-Podilskyj (August 1941), von Berdytschiw (September 1941), von Odessa und Stanislau (Oktober 1941) oder von Simferopol und Drobyzkyj (Dezember 1941) gilt es erst noch, dem Vergessen zu entreißen.

Nach 1945 sind wir im Buch dann schnell beim AKW-Unfall von Tschernobyl (1986) und dann auch schon in den wilden 1990ern. Mysteriöse Autounfälle und ein brutaler Journalistenmord zeugen vom Pfründekampf der alten, russland-orientierten Eliten. Die Kontinuität des ukrainischen Freiheitskampfs muss im Angesicht der aktuellen Kriegsschrecken beschämen. Viel zu lange wurde im Westen nicht gesehen, was doch offensichtlich war. Während manchem Strategen „realistischer“ Provenienz zur Erklärung der russischen Invasion immer nur USA und NATO einfallen, müssen Ukrainer:innen mit ihrer langen Leidensgeschichte nur an das millionenfache Sterben im Holodomor (1932) zurückdenken, um russischer Vernichtungsabsichten gegenüber der eigenen Nation aus einer Zeit gewahr zu werden, in der von USA und NATO noch gar keine Rede war.

Um diesen und andere Sachverhalte aus der ukrainischen Geschichte zu verstehen, hilft der schmale Band von Steffen Dobbert (DIE ZEIT), dem eine breite Leserschaft zu wünschen ist, ungemein.

BILD CREDITS: Nessa Gnatoush – https://www.flickr.com/photos/11036666@N08/11155511025/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29973240

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