(Diese Sammelrezension erschien in einer gekürzten Version auch in der Sächsischen Zeitung vom 3. November 2022)
Geht man dieser Tage durch die Buchhandlungen, fehlt selten der obligatorische Russland-Ukraine-Tisch. Von dutzenden Covern schauen Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskij auf die geneigte Leserschaft, gleich so, als handele es sich bei dem grausamen Angriffskrieg, den die russische Föderation gegen ihr Nachbarland führt, um einen Zweikampf. Dabei ist das Interesse für den ukrainischen Präsidenten, der erst seit 2019 im Amt ist, naturgemäß neuerer Natur. Putin-Bücher gibt es seit vielen Jahren, und das in Massen. Wir hätten also gewarnt sein können. Ein paar Beispiele:
Die Enthüllungsbücher von Anna Politkowskaja erschienen ja ziemlich früh nach Putins Machtübernahme. „Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg“ (2003), „In Putins Russland“ (2005) oder „Russisches Tagebuch“ (2007) legten dar, was erst heute, im Jahre 2022, mehr oder weniger Allgemeinwissen geworden ist: Dass der russische Präsident ein skrupelloser Verbrecher ist, der zur Erreichung seiner Ziele ungerührt über Leichen geht. Es wurden im Laufe der Jahre hunderte, tausende, hunderttausende Leichen – und Anna Politkowskaja war eine von ihnen, nachdem sie 2006 in Moskau erschossen worden war.
Ein Schicksal, das wohl auch der in Moskau geborenen Publizistin Masha Gessen gedroht hätte, wäre sie nicht rechtzeitig ins US-Exil zurückgekehrt. Nach der Lektüre von „Der Mann ohne Gesicht – Wladimir Putin. Eine Enthüllung“ (2013) konnte eigentlich niemand, der halbwegs bei Verstand war, weiterhin glauben, bei Putin handele es sich um einen „lupenreinen Demokraten“, wie es Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) 2004 erklärt hatte. Dafür war der Body Count auf diesen Seiten, die Dichte an plötzlichen Herzinfarkten und Fensterstürzen einfach zu hoch. Doch Ähnliches konnte man in entsprechenden Kreisen auch 2014 noch lesen. So mutmaßte der Vordenker der legendären Ostpolitik, Egon Bahr (ebenfalls SPD), im Zuge der Krimkrise: „Ich habe jetzt das Gefühl, als ob man im Grunde dem Putin übelnimmt, dass er kein Demokrat nach unserer Auffassung und nach unserer Machart ist.“
Wer sich bereits in den Jahren zuvor mit der Herrschaftslogik des Putinismus auseinandersetzen wollte, der wurde durch die Politikwissenschaftlerin Margareta Mommsen informiert: „Wer herrscht in Russland? Eine Großmacht zwischen Anarchie und Demokratie“ (2004) oder „Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland“ (2007) trugen beide noch den Begriff „Demokratie“ im Titel. Und das zu einer Zeit, in der hierzulande bereits spekuliert wurde, ob man bei Putins Russland nicht von einer „Demokratur“ sprechen sollte. Noch war die Repression im Inneren nicht so hemmungslos, wie nach Putins Rückkehr an die Macht im Jahre 2012.
Der 2018 verstorbene Historiker und Publizist Walter Laqueur fokussierte sein Buch „Putinismus. Wohin treibt Russland?“ (2015) auf die einzigartige Natur des Regimes: „In der Geschichte hatten in verschiedenen Regimen Reiche und Superreiche politische Machtpositionen erklommen, und in Militärdiktaturen waren Oberste und Generale an die Spitze gelangt. Aber die politische Polizei hatte noch nie das Kommando gehabt, nicht im Faschismus und in anderen politischen Regimen ohnehin nicht.“ Geschrieben ist der Band, wie man es von Laqueur gewohnt war, mit großer Sachkenntnis und aber auch mit der Gelassenheit desjenigen, der im Leben bereits einiges an Gewaltherrschaft erlebt und erforscht hatte. Aufgerüttelt wurde dadurch leider kaum jemand.
Geradezu bewundernd kommen dafür die Putin-Bücher des Investigativjournalisten Hubert Seipel daher. „Putin. Innenansichten der Macht“ (2015) oder zuletzt nochmal „Putins Macht. Warum Europa Russland braucht“ (2021) sind beides Werke für waschechte „Putin-Versteher“, wurde es doch Seipel als erstem westlichen Journalisten gewährt, Putin in den Jahren 2011 und 2012 über Monate zu begleiten. Derlei Hofberichterstattung brachte ihm den Vorwurf ein, „journalistische Standards zu verletzen und mit einseitiger Gesprächsführung die russische Staatspropaganda unterstützt zu haben.“
Geschrieben wurde diese Kritik 2014 von damaligen FOCUS-Journalisten Boris Reitschuster, dessen Bücher „Putins Demokratur. Wie der Kreml dem Westen das Fürchten lehrt“ (2014) oder „Putins verdeckter Krieg. Wie Moskau den Westen destabilisiert“ (2016) in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert sind. Zum einen legt der langjährige Russland-Korrespondent in beiden Fällen anschauliche und bewegende Berichte aus dem Lügenalltag des Putin-Regimes vor, zum anderen machte sich hier bereits der oftmals geifernde Tonfall bemerkbar, jene mangelnde Distanz zur Materie, die Reitschuster später zum rechtsextremen Verschwörungsideologen und zum regelmäßigen Verbreiter von Falschinformationen – insbesondere in der COVID-19-Pandemie – werden ließen.
Dass die intensive Beschäftigung mit russischen Gewaltregimen seelische Schäden hervorrufen kann, ist dabei nichts Neues. So musste der britische Russland-Historiker Orlando Figes im Jahre 2010 zugeben, unter dem Pseudonym „Historian“ massenhaft schlechte Amazon-Rezensionen zu den Büchern seiner akademischen „Rivalen“ geschrieben zu haben, so etwa zum Werk „Comrades. Communism: A world history“ (2008) von Robert Service: „Dies ist ein schreckliches Buch. Es ist sehr schlecht geschrieben und langweilig zu lesen. Es bietet keinerlei Einsichten, die es der Mühe wert wären, sich durch diese schreckliche Prosa zu pflügen.“ Als Grund für dieses Treiben gab Figes nach seiner Überführung an, durch die intensive Beschäftigung mit den Opfern des Stalinismus in eine tiefe Depression gefallen zu sein.
Mag diese Geschichte auch etwas kurios anmuten, dem Abgrund an Desinformation, den russische Regierungen immer wieder unter das Volk gebracht haben, täglich ins Auge zu schauen, erfordert einiges an innerer Stabilität. Wer Thomas Urbans „Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens“ (2015) gelesen hat, der erkennt, welch extremer, geradezu unrealistisch anmutender Aufwand mitunter betrieben wird, um die Realität umzudichten. Zum Nachweis, dass die Toten im Wald von Katyn nicht durch Sowjets, sondern durch Deutsche ermordet wurden, verfrachtete man ganze Heerscharen von Wissenschaftlern ins Gebiet bei Smolensk, die auf tausenden von Seiten an Untersuchungsberichten „nachwiesen“, was nachgewiesen werden sollte – und doch eine einzige Lüge war. Von hier bis zu „Fachgutachten“ darüber, warum Flug MH17 im Jahre 2014 gar nicht von einer russischen Rakete abgeschossen worden sein kann, wie sie über den Messanger-Dienst Telegram massenhaft verbreitet wurden, führt eine direkte Linie. Und so ist Urban auch der perfekte Autor, um den Deutschen in seinem Buch „Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik“ (2022) zu erklären, was 2014 hinter dem Nebel der Desinformation auf der Krimhalbinsel und im Donbass eigentlich wirklich geschehen ist – und wie ignorant die öffentliche Reaktion darauf war. Putins Propaganda gingen hierzulande weiterhin allzu viele auf den Leim.
Gelernt ist schließlich gelernt, blickt man auf die Geheimdienstkarriere des KGB-Manns Putin. Der deutsche Politikwissenschaftler Thomas Rid zeigt im bislang nur auf Englisch erhältlichen „Active Measures. The Secret History of Disinformation & Political Warfare“ (2020) die diesbezüglichen Abgründe der internationalen Politik, wobei es in der Natur der Sache liegt, dass ein starker Fokus auf Putins Russland liegt. Ähnliches vollbrachte bereits zuvor der russische Exilant Peter Pomerantsev mit „Das ist keine Propaganda. Wie unsere Wirklichkeit zerstört wird“ (2019), das stark aus der russischen Perspektive verfasst ist und sich mit der Auflösung der Realität als politischer Waffe beschäftigt. Seit kurzem auf Deutsch erhältlich ist „Putins Armee der Trolle. Der Informationskrieg des Kreml gegen die demokratische Welt“ (2022) der finnischen Publizistin Jessikka Aro, für das die mutige Autorin bereits im Vorfeld heftig angegangen wurde. Immerhin: Zwei der Putin-Trolle, die Aro jahrelang terrorisiert hatten, wurden im Jahre 2018 zu Gefängnis und Geldbußen verurteilt.
Ebenfalls hart angegangen wurde die britische Investigativjournalistin Catherine Belton für ihr Buch „Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“ (2020), das als umfassendster und gründlichster Bericht der internationalen Destabilisierungsaktivitäten russischer Regierungspolitik gelten darf. In keinem anderen Werk werden beispielsweise die SED- und Stasi-Verbindungen des heutigen Nord-Stream-Managements, werden die Verflechtungen rund um Ex-Bundeskanzler Schröder derart minutiös aufgedeckt. Und das ist nur das deutsche Beispiel. Entsprechende Aktivitäten gab und gibt es auch in Großbritannien, dessen Hauptstadt nicht umsonst bereits Londongrad genannt wurde, in Österreich, Italien, Frankreich, Schweiz und den Niederlanden – um nur die wichtigsten Staaten zu nennen. In fast all diesen Ländern unternahmen Putin-Getreue rechtliche Schritte, um die Veröffentlichung des Buches zu verhindern. Zum Glück ohne Erfolg.
Auch deutsche Journalistinnen wie Alice Bota (DIE ZEIT), Sabine Adler (Deutschlandfunk), Golineh Atai (ARD) oder Katrin Eigendorf (ZDF) haben die Ereignisse in Russland und Osteuropa seit vielen Jahren im Blick und sehen an den massenhaft geworfenen Nebelkerzen vorbei. Der Gegenwind, den sie bis auf den heutigen Tag erfahren, ist beschämend. Insbesondere im Umfeld der Ereignisse von 2014 musste sie, die ja anders als der damalige Mainstream verstanden, was gespielt wurde, tonnenweise Hass aushalten. Es war dies eine Zeit, in der der Programmbereit der ARD dem Senderverbund eine Rüge wegen einer „voreigenommenen“, „tendenziösen“ und „zu russlandkritischen“ Berichterstattung erteilte – aus heutiger (und auch damaliger!) Sicht ein geradezu grotesker Vorgang.
Wenn Alice Bota heute in der Tradition der belarusischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch die Rolle der Frauen in den Blick nimmt, dann bringt sie damit ihren Leser:innen Persönlichkeiten von unglaublichem Mut und einem unbändigen Drang nach Freiheit näher, die kein Regime dauerhaft unterdrücken können wird: „Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit“ (2021). Ist es da verwunderlich, dass sie in Talkshows gelegentlich genervt bis betrübt wirkt, wenn der oder die obligatorische Putin-Versteher:in in der Runde Botas Erkenntnisse und Erfahrungen mal wieder relativieren zu müssen glaubt?
So ergeht es ja regelmäßig auch Golineh Atai, die geübt ist im Kampf mit „Hassbloggern und Meinungsagenten“. In „Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist“ berichtete sie 2019 von einer Neuerfindung Russlands im Zeichen alter imperialistischer Größe und auch bei ihr scheint sich bei dem einen oder anderen Interview das alte Nietzsche-Diktum zu bewahrheiten: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
In diesen Abgrund schaut auch Sabine Adler in „Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft“ (August 2022). ZDF-Moderatorin Maybrit Illner bescheinigte ihr, in ihrem Buch „ordentlich auszuteilen“, dabei trug doch Adler in ihrem immens lesenswerten Werk neben erhellenden historischen Rückgriffen einfach nur zusammen, was deutsche Politiker:innen im Laufe der Jahre für Unsäglichkeiten gegenüber der Ukraine vom Stapel ließen. Ihr Buch endet mit dem Unverständnis darüber, dass die deutsche Politik auch nach 2014 keinen Kurswechsel vorgenommen, vielmehr die Abhängigkeit in Sachen Gas mit dem Bau von Nord Stream 2 und dem Verkauf der Gasspeicher sogar noch intensivierte. Ein Untersuchungsausschuss sei dringend vonnöten. Nur der kritische Blick auf „Deutschlands Versagen“ könne Sicherheit in der Zukunft davor gewährlisten, dass sich derartige Fehler wiederholen. Denn: Mit der Abhängigkeit von China droht ein entsprechendes Szenario im Quadrat.
Zuletzt legte Kathrin Eigendorf den Reportage-Band „Putins Krieg. Wie die Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit kämpfen“ (August 2022) vor. Der Titel ist unglücklich gewählt, haben doch gerade wir Deutschen gelernt, dass die Fokussierung auf die eine Person an der Spitze etwas ungemein Relativierendes hat. Doch lesen sich Eigendorfs Berichte aus den Vorjahren und ersten Monaten 2022, in denen sie ihren Leser:innen das Gesicht des Krieges beispielhaft an Personen des Alltags näherbringt, als wertvolle Ergänzung zur „großen Politik“.
Anfang Oktober wird dann ein enger Vertrauter des inhaftierten russischen Dissidenten Alexei Nawalny eine weitere Perspektive vorlegen: In „Putinland. Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens“ wird Leonid Wolkow aus dem Innenleben der Anti-Putin-Bewegungen berichten und dabei Hinweise darauf geben, was nach Putin kommen könnte, wie die Opposition gestärkt werden kann und nicht zuletzt auch der deutschen Politik den Spiegel vorhalten, wie ihre jahrlange Nähe zu Putin jeglichem Widerstand gegen sein Gewaltregime den Wind aus den Segeln nahm.
Insgesamt zeigt sich: Es mangelt nicht an öffentlich zugänglicher Information zum Regime Putins, das zusehends Charakteristika des Faschismus annimmt. Es bedarf jedoch der richtigen Schlüsse, die im Interesse der Freiheit der Ukraine, Europas und Russlands selbst gezogen werden müssen. In dieser Hinsicht ist ein Tweet des Journalisten Markus Decker (RND) bezeichnend für die fortgesetzte Misere der deutschen Öffentlichkeit, in der Tatsachen nach wie vor behandelt werden wie bloße Meinungen: „Deutsche Intellektuelle, die wie selbstverständlich in die von anderen erkämpfte Freiheit hineinwuchsen, haben kein Problem damit, Zeitgenossen von heute einen Platz in der Unfreiheit zuzuweisen. Das ist schwer zu fassen. #Ukraine“
Ob die Lektüre der richtigen Bücher daran etwas zu ändern vermag?
Danke für den Überblick!