Über jenes „medienkritische“ Buch mit Richard David Precht wurde ja bereits viel geschrieben. Mittlerweile wurden auch die zahlreichen Fehler (nicht nur Fehleinschätzungen) benannt, die es aufweist. Diese sind so offenkundig, dass sie einen Medienkritiker wie Stefan Niggemeier dazu bringen, die Medien gegen Precht/Welzer zu verteidigen. Welzer jedoch gibt sich komplett ungerührt. Da Kritik der Medien an ihrer Kritik an den Medien bereits eingepreist war, ziehen die Autoren jetzt bei jeder Gelegenheit den Billig-Joker: „Quod erat Demonstrandum“. Praktisch. Mit Kritik am Buch bestätigt man das Buch. Derart eingemauert, lebt es sich scheinbar gänzlich ungeniert, wie man hier nachschauen kann.

Schon im März hatte sich Welzer kritisch zur „Ästhetik und Rhetorik des Krieges“ in deutschen Medien geäußert: „Wer hätte es für gut gehalten, dass Begriffe wie ‚Tapferkeit‘, ‚Vaterland‘, ‚Held‘ usw. usf. plötzlich nicht nur sagbar, sondern positiv verstanden werden könnten?“ Merkwürdig entrückt schien diese Kritik und von den tatsächlichen Ereignissen in der Ukraine losgelöst. Handelte es sich dort wirklich um Sprachprobleme, wenn es um den nackten Überlebenskampf ging? Und droht in Deutschland etwa ein Rückfall in die Landser-Rethorik des Dritten Reiches, wenn es einer jungen Demokratie gegen ein Russland beisteht, das zusehends Merkmale des Faschismus trägt?

Dass Welzer jedenfalls bei den Unterzeichnenden des Offenen Briefes der EMMA dabei war, überraschte daraufhin niemanden mehr. Dabei ließ er sich folgendermaßen vernehmen: „Das positivste Szenario, über das man überhaupt sprechen kann in dem Zusammenhang, ist ein lange andauernder Zermürbungs- und Abnutzungskrieg. […] Das ist eine höchstgefährliche Angelegenheit und ich sehe nicht, wie das auch nur ein einziges Menschenleben in der Ukraine retten könnte.“ Dass mittlerweile Millionen Menschen vor dem Faschismus und hunderte, wenn nicht tausende vor Mord, Terror, Folter und Vergewaltigung bewahrt werden konnten, müsste Welzer eigentlich zu einer Neueinschätzung der Lage bewegen. Doch damit ist scheinbar nicht zu rechnen. 

Im Mai hatten wir dann Welzer bei Anne Will (ARD) gegen den ukrainischen Botschafter Melnyk. Wie er diesen vor einem Millionenpublikum regelrecht abkanzelte („Bleiben Sie mal […] beim Zuhören und nicht beim Kommentieren!“), war wirklich ein Fanal, stand dieses Abkanzeln doch stellvertretend für zehntausendfachte Abkanzelungen dieser Art im ganzen Land. Dazu seinerzeit der Journalist Julian Hans in einem treffenden Tweet: „Ein Nachfahre der Täter belehrt einen Nachfahren der Opfer und Vertreter einer Nation unter Bomben und stützt sich dabei AUF DIE WELTKRIEGSERFAHRUNG IN SEINER EIGENEN TÄTERFAMILIE.“

Schon bei diesem Auftritt Welzers wurde deutlich, dass da irgendetwas in ihm arbeitet, irgendetwas aus ihm herausspricht, das so gar nicht zu den wirklich instruktiven, wichtigen und lehrreichen Büchern passen wollte, die der Soziologe und Sozialpsychologe bis dato vorgelegt hatte. Aber was genau war das?

Was auch immer „es“ ist, es sprach nun erneut recht vernehmlich aus Welzer heraus, als er sich über den „minutenlangen“ Applaus für den Friedenspreisträger Serhij Zhadan echauffierte. Nicht, ohne sich sogleich wieder gegen Kritik zu imprägnieren: Ihm würden diese Aussagen sicher wieder „schieren Ärger“ einbringen, so der leidgeplagte Analyst der Zeitläufte. In Deutschland, so Welzer weiter, fühlten sich „alle“ permanent aufgefordert, die Perspektive der angegriffenen Ukrainerinnen und Ukrainer zu übernehmen, sagte er bei der Lit. Cologne Spezial in Köln. Tatsächlich sei Deutschland aber keine Kriegspartei, sondern dritte Partei mit allen Möglichkeiten, die das „zum Wohle der Ukraine“ eröffne: „Diese permanente Verwechslung, die führt zu einem minutenlangen Applaus bei solchen Äußerungen, das ist diese gesinnungsethische Überanstrengung.“

Wer aber ist hier von was überanstrengt? Dass Zhadan über die angreifenden Russen nicht nur Nettes, teils für einen Friedenspreisträger gar nicht friedfertig Wirkendes zu sagen hat, wurde ja von Volker Weidemann in der ZEIT überzeugend erklärt: Im Erschrecken über seine eigene Verwandlung seit Beginn des verbrecherischen Krieges, über die Selbstreflexion in Literatur und Dichtung, kann der Autor überhaupt erst den Weg zurück zu einem Status Quo ante finden. Irgendwann. „Diese Erfahrung“, so Zhadan, „ist in unserer Welt leicht zu erwerben, aber danach schwer wieder loszuwerden.“

Was aber treibt Welzer, hier ernsthaft von Dezivilisierungsprozessen zu sprechen und diese ungerührt mit dem russischen Angriff auf eine Stufe zu stellen?

Der Mann ist Baujahr 1958. Nicht mehr Flakhelfergeneration. Keine verdrängte SS-Mitgliedschaft wie bei Grass. Keine im Alter hervortretenden antijüdischen Affekte wie bei Walser. Auch für den klassischen 68er ist Welzer zu jung. Keine Flucht vor der Nazi-Vergangenheit in den Anti-Amerikanismus. Also woher rührt dann diese ostentative Blindheit gegenüber dem Putin-Faschismus? Diese geradezu abstruse Täter-Opfer-Umkehr in Sachen Russland-Ukraine? Dieser Glaube an den Erfolg von Verhandlungen mit einem Massenmörder wie Putin? Diese unhistorische Gewissheit, dass Pazifismus hier das Mittel der Wahl wäre? Diese Übernahme von Glaubenssätzen der Friedensbewegung, die längst in den Rang von Dogmen zu heben sind, die Weltbilder retten, aber mit der Realität erkennbar wenig korrespondieren? Diese Ignoranz gegenüber der Opferbereitschaft der Ukrainer:innen, wo Menschen den Kampf für die Freiheit dem Leben im Faschismus vorziehen, auch wenn es das eigene Leben kosten könnte? Ist unsere Freiheit nicht ebenso erkämpft worden? Und wird sie nicht in diesem Moment in der Ukraine verteidigt? Den Deutschen wieder einmal geschenkt, ohne dass sie groß etwas dafür tun müssten und sich dabei in Gestalt einiger ihrer Intellektueller auch noch moralisch überlegen fühlen?

Dabei sind doch all diese Debatten längst geführt! Welzer selbst kennt sie ja. Seine früheren Bücher zeugen davon. Julien Bendas „Verrat der Intellektuellen“ (erstmals 1927) bleibt auch heute eine lohnende Lektüre. Die Kontinuitäten sind immer wieder frappierend: „Wir sind der Meinung, dass Intellektuelle vollkommen im Einklang mit ihrer Aufgabe handeln, wenn sie Gewaltanwendung billigen, ja sogar fordern, sobald sie ausschließlich der Gerechtigkeit dient – vorausgesetzt, sie vergessen dabei nie, dass Gewalt nur eine vorübergehende Notwendigkeit ist und niemals ein Wert an sich.“ So schreib Benda in einem neuen Vorwort 1946 und zitierte den Erzbischof von Canterbury, der anlässlich des Abessinienkrieges (1935-1936) Sanktionen gegen Italien forderte, und damit – so seine Kritiker – den Frieden in Europa gefährdete: „Nicht Frieden: Gerechtigkeit ist mein Ideal“.

Und Gerechtigkeit, so viel ist klar zu sehen, liegt nach Lage der Dinge nun einmal auf Seiten der Ukraine. Auch wenn sich selbst besonderes schlau wähnende Stimmen das Offenkundige weg zu differenzieren vermögen. Es ist die Gabe der Intellektuellen, so einst Wolfgang Pohrt, „gera­de dann die Dinge unnötig [zu] komplizieren, wenn sie leider furchtbar einfach ge­worden sind.“

Welzer indes sieht die Beiträge Zhadans, die man jetzt in dem Band „Himmel über Charkiw“ bewundern kann, nicht als „Beitrag zur Zivilisation“, vielmehr seien sie „Teil eines dezivilisierenden Prozesses, der von anderen angestoßen worden ist“: „Und die eigentliche Kulturleistung von uns, den Dritten, würde doch genau darin bestehen, dass man sich in diesen Dezivilisierungsprozess nicht reinziehen lässt.“

Abgesehen von dem Umstand, dass Deutschland in diesem Krieg nicht einfach nur „Dritter“ sein kann, sondern als Teil des freien Westens mindestens mitangegriffen wird, als Adressat hybrider Kriegsführung und gesellschaftlicher Destabilisierungsanstrengungen seit Jahren auch längst im Visier des Kreml ist und durch schuldhafte Ignoranz gegenüber Osteuropa im Allgemeinen und der Ukraine im Speziellen eine besondere Verantwortung trägt – die Rede von der Dezivilisierung krankt auch an anderer, zentraler Stelle: 

Die deutsche Bevölkerung ist mit großer Mehrheit bereit, der Ukraine zu helfen, sie auf vielfältige Art und Weise zu unterstützen, selbst dann, wenn dafür eigene materielle Nachteile in Kauf genommen werden müssten. Das ist in dieser Art und Weise ein welthistorisch ziemlich junges Phänomen, das im Gegenteil als Meilenstein im Prozess der Zivilisation gelten darf. Dass dies auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse geschieht, steht auf einem anderen Blatt. Dennoch: Konturen einer Außenpolitik als Weltinnenpolitik werden erkennbar. Es kann überhaupt nicht die Rede davon sein, dass all dies aus irgendwelchen antirussischen Affekten heraus geschieht. Auch hier ist das Gegenteil wahr: Das genaue Schauen auf die russische Teilmobilmachung, das Hoffen auf Risse im System Putin, zeugen doch gerade davon, dass sich die große Mehrheit der Deutschen auch für Russland eine demokratische und friedliche Zukunft wünscht.

All dies geschieht nicht als Rückfall in eine „Rhetorik des Krieges“ – wenn überhaupt in eine mit progressiver Wendung. All dies geschieht aufgrund verinnerlichter Erinnerungskultur und angewandter Vergangenheitspolitik. Die Lehren wurden spät, zu spät gezogen. Deutschland tut immer noch zu wenig, bleibt zu sehr in alter Großmächtepolitik verhaftet, baut dem Putin-Regime immer noch Brücken. Doch die generelle Richtung speist sich aus der Erkenntnis, dass das „Nie wieder“ nicht „Nie wieder Krieg“, sondern vielmehr „Nie wieder Faschismus“ bedeuten darf. Es ist eine Wendung, es ist ein Anwendungsfall, den bereits – siehe oben – Julien Benda im Sinn hatte. Es ist ein Schluss, der auch schon 1999 im Kosovo-Krieg gegen Diktator Milošević gezogen wurde. Und er findet jetzt erneut Anwendung im Krieg des Westens gegen Diktator Putin. Es ist eine Wendung freilich auch, die Welzer nicht mitgehen möchte. Er bleibt verhaftet in deutschdeutschesten Befindlichkeiten – und stellt sich damit in eine Kontinuität der Unfreiheit, an der er eigentlich selbst kein Interesse haben kann.

BILD CREDITS: Von Martin Kraft – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44143531 

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