Nicht wie ein Liberaler denken? (Rezension)

Zwei neue Bücher blicken sehr unterschiedlich auf den Liberalismus

Der Liberalismus hat es seit jeher schwer. Obwohl er durchaus eine Erfolgsgeschichte vorweisen kann, versagt sich liberales Denken bis heute eindeutiger Zuordnung. Derart wechselhaft sind dessen Erscheinungsformen, dass der liberale Einfluss kreuz und quer über die Parteiensysteme der Welt verteilt ist. Liberale Elemente gibt es sowohl mitterechts als auch mittelinks, liberale Parteien selbst verfügten jedoch selten über eigene Mehrheiten. Gilt liberal im angelsächsischen Sprachgebrauch als gesellschaftspolitisch links, so wird liberale Wirtschaftspolitik etwa in Deutschland – Ampel hin, Ampel her – eher der dem rechten Spektrum zugeordnet. 

Nun hat es sich seit einiger Zeit eingebürgert, von den „liberalen Demokratien des Westens“ zu sprechen. Damit wird das Liberale in einer Art und Weise normativ aufgeladen, dass eine Abweichung davon im Grunde „unwestlich“ erscheinen muss. In einer Zeit, in der Viktor Orban als Heros der Neuen Rechten einer „illiberalen Demokratie“ das Wort redet, mag ein Buchtitel wie der des US-amerikanischen Philosophen Raymond Geuss daher zunächst verstören: „Nicht wie ein Liberaler denken“. Geuss geht es dabei nicht um eine Widerlegung oder um Argumente gegen den Liberalismus. Vielmehr möchte er ein Denken vorstellen, dass sich weder einer liberalen noch einer autoritären Seite zuordnen lässt. Geuss‘ Methode ist dabei weitgehend autobiographisch. Insbesondere die Jahre an einem katholischen Piaristeninternat in Pennsylvania waren für ihn prägend. Von den aus Ungarn Geflüchteten, die dort lehrten, war es vor allem der Pater Béla Krigler, der Geuss eine liberalismuskritische Sicht auf die Dinge mitgab, die er später zu einer an Adorno geschulten, linken Kapitalismuskritik ausbaute. Wenn Geuss heute alles Totalisierende ein Graus ist, so wendet er sich aus eben diesem Geist auch gegen den Liberalismus, dessen antiideologische Ausrichtung für ihn nichts mehr als eine Täuschung ist. 

Bereits nach wenigen Seiten wird klar, dass Geuss argumentativ keine Gefangenen macht und seine Leserschaft zu einem intellektuellen Abenteuer einlädt. Wie kann bei einer Vielzahl westlicher Staaten von „liberalen parlamentarischen Demokratien“ gesprochen werden, wenn es sich doch im Grunde um „Erbmonarchien“ handelt, „in denen feudale religiöse Strukturen immer noch eine gewisse Rolle spielen“? Ist solcherart der Denkraum erstmal eröffnet, hält sich Geuss nicht lange mit Definitionsfragen auf. Was genau „Christentum“, „Kommunismus“ oder eben „Liberalismus“ eigentlich sind, sei schwer in bündige Worte zu fassen. Vielmehr handele es sich um „historisch wechselnde Pakete oder verdichtete Häufungen von Überzeugungen, Werten und Einstellungen, die in eine Reihe ebenso wechselnder charakteristischer Praktiken und Institutionen eingebettet sind.“

Geht es nun darum, das liberale Paket zu betrachten, so bietet sich das Buch der Gießener Philosophin Elif Özmen an. Auf gut zweihundert dicht bedruckten Seiten diskutiert sie ausgiebig das von ihr so genannte „trio liberale“: Individualismus, Freiheit und Gleichheit. Für die Autorin ist dabei klar: „Im Zweifel für den Liberalismus“, dem sie einen „objektiven Geltungsanspruch“ und eine „normative Attraktivität“ attestiert. Kritik am Liberalismus kontert sie wiederholt mit dem Argument, es werde dabei nicht genug zwischen liberaler Theorie und liberaler Praxis unterschieden. 

Was diese Kritik nun angeht, lohnt es sich, beide Bücher nebeneinander zu lesen. Das Konzept des selbstbestimmten und rational handelnden Individuums hält Geuss mit Krigler für eine Illusion: „Ich weiß nicht unbedingt, was ich denke oder glaube, und ganz gewiss weiß ich nicht mit absoluter Sicherheit, was ich will.“ Somit wüssten die Menschen auch nicht unbedingt, „was in ihrem eigenen Interesse ist“. Es liegt auf der Hand, dass hier eine Entmündigungsgefahr liegt: Soll mir der Staat etwa vorschreiben, welche Heizung ich nutzen soll? Doch Geuss geht noch weiter: Die Vorstellung, jegliche Konflikte in einem herrschaftsfreien Diskurs à la Habermas ausdiskutieren zu können, hält er buchstäblich für naiv: Eine solche Diskussion „wird nicht unbedingt zu einem größeren gegenseitigen Verständnis führen – sie kann Unstimmigkeiten vertiefen und Feinseligkeiten verstärken“. Die weltanschauliche Neutralität, die der Liberalismus bei der Organisation dieser Diskussionen für sich in Anspruch nimmt, hält Geuss ebenfalls für eine Illusion: Diese Ansprüche „seien jedenfalls oft nur Ausreden dafür, eine Wahl getroffen zu haben, dabei aber nicht akzeptieren zu wollen, dass man genau das getan hat, und die Wahl so der Überprüfung zu entziehen“. Schlussends sollten auch nicht „alle Meinungen, Geschmacksvorlieben oder Lebensstilentscheidungen toleriert werden“, so Geuss. Dass dies überhaupt gesagt werden müsse, zeige, „wie sehr eine übertriebene und verzerrte Version des Liberalismus unser unreflektiertes Denken bereits geprägt hat“. Kurzum: „Es ist schwer zu sehen, wie uns die traditionellen Heilmittel des Liberalismus in der Welt, in der wir jetzt leben, irgendeine Hilfe sein sollen.“

„Gut gegeben!“, möchte man da in einer politischen Gegenwart entgegnen, in der der parteipolitisch organisierte Liberalismus etwa der Erderhitzung mit Technologieoffenheit und der ordnenden Kraft des Marktes begegnen möchte. Für Elif Özmen, die Geuss‘ fast zeitgleich erschienenes Buch leider noch nicht rezipieren konnte, firmieren insbesondere die letztzitierten Auswüchse mit dem Zitat eines Kollegen wohl eher als „primitive Freiheit“. Dabei handele es sich um „die einfache, jedoch vage, erläuterungs- und ergänzungsbedürftige Idee, dass der Einzelne alles tun kann, was er will, ohne dass ihn andere durch Zwang daran hindern dürfen“. Das ist jedoch nicht der Liberalismus, den Özmen meint. Auch die demokratische Schwundstufe des aktuellen Populismus rückt sie möglichst weit weg. Dieser sei „vereinbar“ mit Kommunismus, Sozialismus, Nationalismus, Faschismus oder Demokratie. Hingegen falle „eine Verbindung mit dem Liberalismus (…) chronisch schwer“, postuliert sie, als ob es einen Wolfgang Kubicki oder einen Frank Schäffler gar nicht gäbe. 

Der Kritik des Individuums begegnet Özmen mit der Trennung von normativ und deskriptiv: „Selbstverständlich ist ein normativer Individualismus vereinbar mit der deskriptiven Tatsache, dass Menschen soziale Wesen sind (…).“ Der Liberalismus begründe einen politischen Vorrang „des Rechten“, der Raum für „das Gute“ lasse. Dabei sei er tolerant, aber nicht indifferent oder affirmativ. Er sei zwar neutral und weise „Wahrheitsansprüche“ zurück, solcher bedürfe es für das Gelingen einer politischen Ordnung aber auch gar nicht. Zudem verfüge der Liberalismus über einen „antifundamentalistischen Begründungsmodus“, der keinerlei Dogma postuliert. Letztlich bleibe nur „der Austausch von Argumenten und der Rekurs auf Gründe, die von allen Freien und Gleichen vernünftigerweise geteilt werden können“.

Weiter können zwei Autoren wohl kaum auseinanderliegen als Geuss und Özmen. Eine öffentliche Diskussion zwischen den beiden wäre sicherlich ein lohnendes Schauspiel. Würde sich der zwanglose Zwang des besseren Arguments durchsetzen oder der Konflikt nur besonders gründlich herausgearbeitet werden?

Raymond Geuss: Nicht wie ein Liberaler denken, Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 267 Seiten, 28 Euro.

Elif Özmen: Was ist Liberalismus? Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 208 Seiten, 18 Euro.

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