In einem Land vor unserer Zeit. Deutschland im Roll-back

Deutschland befindet sich in einer inneren Neuorientierungsphase. Unüberhörbar kracht es im Gebälk. Nicht nur das Parteiensystem sortiert sich neu, auch die alten Narrative geraten ins Wanken. Ein wirkmächtiges „Anti-68“ hat eingesetzt. Vielerorts entscheiden „Stimmungen“ (Heinz Bude) über richtig und falsch, nicht mehr Argumente. Inmitten einer „großen Gereiztheit“ (Bernhard Pörksen) werden scheinbar festgefügte Gewissheiten neu verhandelt. Droht die Abkehr von der Umkehr? Also die Abkehr von der konsequenten „Verwestlichung“ in Folge zweier Weltkriege, die, von Adenauer eingeleitet, ab den 1960er Jahren die Bundesrepublik erfasst hatte? Fest steht: Die neuen Rechten haben ihren Gramsci gelesen. Bemühungen, die Hegemonie über den kulturellen Raum zu erlangen, um von dort auch die politische Hegemonie zu gewinnen, sind in vollem Gange. Buchmessen sind heute Orte latenter Gewalt. Schnellroda wird zum Synonym für eine real greifbare Systemalternative. Mit wohligem Grusel pilgern Journalistinnen und Journalisten zum Rittergut und lassen sich beim Verzehr von ökologisch-nachhaltiger Schlachteplatte von der mangelnden Thymos-Spannung der biodeutschen Jugend berichten.

Ein Mosaikstein nach dem anderen rastet ein, um die Abkehr zu vollbringen: Verlage wie „Antaios“ oder „Kopp“, Zeitschriften wie „Compact – Magazin für Souveränität“, Bewegungen wie „Pegida“, die „Desiderius-Erasmus-Stiftung“ oder die konkurrierende „Gustav-Stresemann-Stiftung“ und – als wirkmächtigster Exponent – die „Alternative für Deutschland“ (AfD) als Oppositionsführern im Deutschen Bundestag – mit Verbindungen weit hinein in die rechtsradikale Szene.

Sie alle helfen mit, jene „erinnerungspolitische Wende“ ins Werk zu setzen, die Björn Höcke sich wünscht. Unter dem Deckmantel der Besetzung einer postulierten konservativen Leerstelle werden reaktionäre bis rechtsextreme Inhalte salonfähig gemacht, soll zurückgekehrt werden zu einer Bundesrepublik, die es so noch nie gab. Die Insignien: Plebiszitäre „Volksherrschaft“ statt parlamentarischer Demokratie; weiteres Zurückdrängen des Einflusses der Parteien bei der politischen Willensbildung (außer der eigenen Partei, versteht sich, die spricht ja schließlich fürs „Volk“); außenpolitische Neuorientierung weg vom Westen und hin zu Moskau; Abschaffung öffentlich-rechtlicher Medien; Abschaffung des grundgesetzlich verankerten Asylrechts.

Dass dies funktioniert, hat – neben der Trägheit und Selbstgenügsamkeit der Exponenten der liberalen Demokratie – viel mit Methoden und Wirkmechanismen zu tun, die sich in den letzten Jahren eingespielt haben. Die Beispiele: Sarrazin, Veggie Day, Unisex-Toiletten, die Causa Özuğuz-Gauland, das Thema „Nationalhymne gendern“ und Tellkamp. Schauen wir uns eins nach dem anderen an:

Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“

Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ (2010) zog zwar eine öffentliche Kontroverse und ein SPD-Parteiordnungsverfahren nach sich – es wurde jedoch zu einem der meistgekauften deutschen Sachbücher aller Zeiten. Der Autor hatte nicht nur von Integrationsproblemen muslimischer Einwanderer geschrieben, sondern auch de facto die Eugenik zurück in den öffentlichen Diskurs gebracht. Sarrazins Hauptargumente stammen sogar vom Vater der Eugenik-Bewegung, dem englischen Statistiker Francis Galton (1822-1911), und damit aus der eugenischen Mottenkiste des späten 19. Jahrhunderts: dass nämlich durch Kombination „guter“ Erbeigenschaften Rassen mit „guten“ Eigenschaften zu verbessern seien, dass aber Menschen mit „schlechten“ Eigenschaften sich „leider“ stärker vermehrten. Dass dieses von vielen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte – problematisiert und engagiert angegangen wurde, reichte F.A.Z.-Herausgeber Berthold Kohler, um festzustellen: „Die Botschaft für Sarrazin, aber auch andere potentielle Abweichler vom politischen Mainstream, die Sarrazins der Zukunft, ist klar: Wer solche […] Bücher schreibt, muss sich auf politische und gesellschaftliche Ächtung gefasst machen. […] Die Freiheit der Andersdenkenden war einmal. Auch Voltaire scheint in Potsdam und Berlin nicht mehr häufig gelesen zu werden.“ Was blieb? Dass Narrativ eines in die „rechte Ecke“ gestellten Autors, der sich als Opfer „der Inquisition“ wähnte, und dazu noch extrem erfolgreich und medienwirksam diesen Gestus präsentieren konnte.

Die Veggie-Day-Kontroverse

Im November 2010 beschloss eine Delegiertenkonferenz von BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN, Veggie-Day-Initiativen zu unterstützen. Mit dieser „kleinen Veränderung unseres Lebensstils“ wolle man „Flagge zeigen gegen die zerstörerischen Mittel der industriellen Agrarproduktion: Raubbau an Klima und Natur, ungerechte Verteilung von Boden, Wasser und Nahrung, Verschwendung von Lebensmitteln und tierquälende Massentierhaltung“. Anfang 2011 schloss sich die Bundestagsfraktion der Grünen dieser Forderung an. Im Zuge des Bundestagswahlkampfs fand sich die Idee auch im 327-seitigen Wahlprogramm wieder. Hierin hieß es: „Pro Kopf und Jahr essen wir Deutsche rund 60 Kilo Fleisch. Dieser hohe Fleischverbrauch birgt nicht nur gesundheitliche Risiken. Er erzwingt auch eine Massentierhaltung, die auf Mensch, Tiere und Umwelt keine Rücksicht nimmt. Deshalb fordern wir mehr Verbraucheraufklärung zu den gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Folgen des Fleischkonsums. Öffentliche Kantinen sollen Vorreiterfunktionen übernehmen. Angebote von vegetarischen und veganen Gerichten und ein „Veggie Day“ sollen zum Standard werden. Wir wollen ein Label für vegetarische und vegane Produkte.“

Nach entsprechender Vorarbeit des stellvertretenden CSU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Michael Fuchs, der eine Liste erstellt hatte, mittels derer die Grünen als „Verbotspartei“ diffamiert werden sollten, machte die BILD-Zeitung am 5. August mit der Schlagzeile „Die Grünen wollen uns das Fleisch verbieten!“ auf. Ein veritabler medialer Aufschrei, zudem noch im Sommerloch, war die Folge. Aus Richtung von Union und FDP wurde aus allen Rohren geschossen: Mit viel Gratismut wurde sich der „Bevormundung“ durch die „Verbotspartei“ entgegengestellt. Angesichts der Phalanx der Gegner konnten die Grünen, denen FORSA-Chef Manfred Güllner einen erheblichen politischen Schaden durch den Vorgang attestierte, nur noch entmutigt aufgeben. Mit knapper Mehrheit entschied sich eine Bundesdelegiertenkonferenz im November 2014 gegen den Veggie-Day: „Ob jemand am Donnerstag Fleisch isst oder nicht, ist uns herzlich egal“. Damit endete dieser sachlich vollkommen richtige Vorstoß mit einem glatten Sieg für die Reaktion – Feindbildpflege inklusive. Besonders bitter: In kaum einer Kantine fehlt heute eine vegetarische oder vegane Alternative.

Unisex-Toiletten in Berlin

Was in Flugzeugen, Zügen und in vielen Bars und Clubs von jeher gang und gäbe ist, führte Anfang 2017 zu einem lautstarken Rauschen im Blätterwald: Der Berliner Senat prüfte seinerzeit bereits seit zwei Jahren die Einführung von Unisex-Toiletten in öffentlichen Gebäuden, und nun gab es einen Zwischenbericht. Neben der besseren Nutzung vorhandener Räumlichkeiten ging es dabei auch um die Vermeidung von Ausgrenzung, insbesondere von Transgender-Menschen, aber auch um Geschlechtergerechtigkeit (Männer haben durch die Urinale viel mehr Raum zur Bedürfnisverrichtung). Das Thema hatte alles, was das reaktionäre Herz begehrt: Rot-rot-grün, die scheinbar keine anderen Probleme haben, ein „belangloses“ und noch dazu großstädtisches „Lifestylethema“, Berlin-Bashing („Sündenpfuhl“, „Babylon“, „dekadent“) – entsprechend herzhaft war der Aufschrei: Ein attestierter „Realitätsverlust“ war dabei noch der harmloseste Vorwurf. Die unvermeidliche Vera Lengsfeld griff sogleich das Wort vom „Genderwahnsinn“ auf und fragte „Ist es wirklich so dringend?“

Die Causa Özuğuz-Gauland

Dass es solche Regionalthemen nun verstärkt auch in die überregionale Presse schafften, hatte auch mit einem gesteigerten Bedürfnis zu tun, dem Hass auf das „links-rot-grün verseuchte 68-er Deutschland“ (Jörg Meuthen, AfD) neue Nahrung zu geben. Dabei hat insbesondere die AfD ein hervorragendes Gespür für Themen, die ihre Anhängerschaft kochen lässt. In einem zunächst unbeachtet gebliebenen Interview im August 2017 hatte die Staatsministerin und Integrationsbeauftragte des Bundes, Aydan Özuğuz, gesagt, „eine spezifische deutsche Kultur sei jenseits der Sprache nicht identifizierbar“. Alexander Gauland, der immer etwas dusselig, aber insgesamt harmlos rüberkommt, galt lange als Prototyp des ehrbaren Tweedsakko-Konservativen. Dass er sich für Björn Höcke einsetzte, galt vielerorts als befremdlich, wurde aber insgesamt eher machttaktisch erklärt. Als er nun aber im Obereichsfeld erklärte, Aydan Özuğuz aufgrund ihrer Aussage in Anatolien „entsorgen“ zu wollen, war der Aufschrei zu Recht groß.

Ist Gauland, der sich explizit nicht für seine Aussage entschuldigt hat, also ein Nazi? Die Entmenschlichung, welche die Rede vom „Entsorgen“, das gemeinhin mit „Müll“ assoziiert wird, mit sich bringt, passt jedenfalls sehr gut zur nationalsozialistischen Ideologie. Auch die Tatsache, dass es sich bei Aydan Özuğuz um eine in Deutschland geborene, deutsche Staatsbürgerin mit türkischer Familienherkunft handelt, lässt Gaulands Rückführungs-Fantasien in einem rassistischen Licht erscheinen; nein: Sie sind rassistisch. Gemessen hieran war der seinerzeit extrem skandalös eingestufte NPD-Slogan „Gute Heimreise“ geradezu harmlos.

Was aber blieb? Viel Kritik an Gauland, ja. Aber auch und immer wieder: Özuğuz‘ Aussage sei unhaltbar, skandalös; zahlte diese doch so wunderbar auf das Narrativ der stets bedrohten und ach so fragilen deutschen nationalen Identität ein. Und das auch noch von einer Sozi-Frau mit einem solchen Namen? Man sollte meinen, die große Umvolkung wäre bereits vollendet. Selbst der verdienstvolle Peer Steinbrück reiht sich in seinem jüngsten Buch in die Riege der Özuğuz-Kritiker ein und attestiert ihr, „Unsinn“ geredet zu haben und das alte Klischee zu bedienen, die Sozialdemokraten seien „Vaterlandsverräter“.

Nationalhymne gendern – JETZT!

In diesem geistigen Klima kam ein internes Schreiben der Gleichstellungsbeauftragten des Bundesfamilienministeriums, Kristin Rose-Möhring, gerade recht, um die Gemüter zu erhitzen: Zum Internationalen Frauentag am 8. März 2018 brachte sie die Idee ins Spiel, die deutsche Nationalhymne zu gendern. Aus „Vaterland“ solle „Heimatland“, aus der Zeile „brüderlich mit Herz und Hand“ solle „couragiert mit Herz und Hand“ werden. Mit klarer Skandalisierungsabsicht veröffentlichte die BILD am Sonntag das Schreiben. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel „keinen Bedarf“ sieht, etwas am Text der Hymne zu ändern – geschenkt. Auch dass immer wieder das etwas fadenscheinige Argument vorgebracht wurde, es gäbe wichtigere Themen – auch das soweit erwartbar. Dass aber nun auch schon mit dem momentanen geistigen Klima in der Bundesrepublik argumentiert wurde, vor dessen Hintergrund auf solche Vorstöße verzichtet werden sollte, das war eine neue Qualität. So schrieb Ariane Bemmer im Tagesspiegel: „Es zeugt von einiger Gegenwartsvergessenheit, in einer Zeit, in der viele Gewissheiten in Frage stehen, in der Populismus von einer Mode zu einer wachsenden Bedrohung für etablierte demokratische Systeme geworden, mit so einer Idee an die Öffentlichkeit zu treten, denn was wird sie erreichen? Häme und Spott, zuvorderst auch vom rechten Rand, und diese Häme und dieser Spott werden ihre Zustimmung finden.“

Sprich: Die Gleichstellungsbeauftragte soll darauf verzichten, sich für Gleichstellung zu engagieren – um den Populisten kein Futter zu geben. Dass Österreich und Kanada ihre Hymnen längst „gegendert“ haben – und als Staaten trotzdem noch nicht untergegangen sind – es hilft nichts.

Tellkamp

Und damit kommen wir zu Suhrkamp-Autor Uwe Tellkamp („Der Turm“), der sich in einem Streitgespräch mit dem ebenfalls bei Suhrkump publizierenden Dichter und Essayisten Durs Grünbein mal so richtig Luft gemacht hat. Dass Tellkampf im letzten Jahr die von einer Dresdner Buchhändlerin initiierte „Charter 2017“ unterschrieben hatte, ließ bereits nichts Gutes erahnen. Anlässlich der Handgreiflichkeiten auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des rechten Antaios-Verlags wurde hierin vor einer „Gesinnungsdiktatur“ gewarnt – die Unterzeichner sehen sich selbst in der Tradition der tschechoslowakischen Charter 1977, einer Petition und Bürgerrechtsbewegung gegen das damalige kommunistische Regime. Nun entfuhr es Tellkamp ziemlich unvermittelt zum Thema Geflüchtete: „Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent.“ Wer aber Probleme im Zusammenhang mit der Integration anspreche, befinde sich außerhalb eines vom „Mainstream“ vorgegebenen „Gesinnungskorridors“. Grünbein hielt dagegen: „Sobald wir Wahlen haben, kann sich das ja abbilden. Wenn alle unzufrieden sind mit der Merkel-Regierung, dann wählt sie doch ab. Ja? Das ist doch ganz einfach. Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt. Nein, sie werden alle eingeschüchtert und müssen alle so reden wie Merkel, oder was? Was ist denn das für ein Scheiß?“

Als sich dann Suhrkamp auf Nachfrage von seinem Erfolgsautor distanzierte – ob das zielführend war oder nicht sei dahingestellt – gab es für weite Teile der Presse kein Halten mehr. Bestätigte sich hier nicht genau das, was Tellkamp beklagte? Und deshalb startete auch direkt eine kontroverse Debatte im ganzen Land. Nein, nicht über die haltlosen Aussagen Tellkamps, der rechtspopulistische Diskursmuster weiter salonfähig macht, sondern über die Diskriminierung der Rechten durch den „Medienmainstream“. In einem Kommentar von Alexandra Gerlach vom Deutschlandfunk geht es um die „Ächtung der unliebsamen Meinung“. In der Süddeutschen Zeitung heißt es von Jens Bisky: „So dämonisiert man selbst Gartenzwerge.“ In der WELT raunt Tilmann Krause, mit der Meinungsfreiheit sei es bald vorbei, und dass Suhrkamp nun in das Lager der „Gouvernanten“ und „Gesinnungsprüfer“ gewechselt sei.“ Und für Chefradakteur Ulf Poschardt ist klar: „Genau diese Intoleranz macht Rechte erst groß.“ Beistand kam selbst von allerhöchster Stelle im Freistaat Sachsen, als Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) Tellkamp beisprang, und sich gegen dessen „schon wieder beginnende Stigmatisierung“ aussprach.

Wir merken: Die jahrelangen konsequenten Bemühungen zahlen sich aus. Die alten weißen Männer schlagen mit voller Kraft zurück: „Nation“, „Identität“, „Kultur“ sowie alles, was patriarchalische Strukturen in Zweifel ziehen könnte, sind Reizthemen, die jederzeit veritable Shitstorms auslösen können. Wer würde behaupten, dass die Diskurshegemonie immer noch bei den Vertretern der liberalen Demokratie, bei Fortschritt, Gleichberechtigung und Aufklärung liegt? Der Roll-back ist längst da. Und er ist ziemlich hässlich.

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