Wie demokratisch ist die liberale Demokratie? (Doppelrezension)

Zwei neue Bücher untersuchen das Verhältnis von Demokratie und Populismus

Marcel Lewandowsky: Was Populisten wollen. Wie sie Gesellschaft herausfordern und wie man ihnen begegnen sollte, Köln 2024, 336 Seiten, 20 EUR.

Philip Manow: Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde, Berlin 2024, 262 Seiten, 18 EUR.

Mit dem Aufstieg des Populismus ist auch die Demokratie wieder ins Gerede gekommen. Kein Wunder: Ist doch der Populismus das, wovor bereits altgriechische Gelehrte wie etwa Aristoteles in Sachen Demokratie gewarnt hatten: Die gemeinwohlorientierte „Politie“ laufe stets Gefahr, so der Philosoph, in die eigennützige „Demokratie“ umzuschlagen, in der das Volk unter den Einfluss von Demagogen gerät. Beim Tragödiendichter Euripides hieß es bereits vor knapp 2.500 Jahren, dass in Demokratien der Demagoge „das Volk durch eitles Schwatzen – zum eig‘nen Vorteil nur! – bald hier, bald dorthin lenkt.“ 

Unumschränkte Mehrheitsherrschaft kann eben auch dazu verleiten, undemokratische Autokraten, mithin Demagogen oder auch: Populisten, zu wählen. Die moderne Demokratie, die sich in Revolutionen rund um den Atlantischen Ozean ausformte (ca. 1770-1830), kennt dann auch eine ganze Reihe von Kontrollmechanismen, sogenannte Checks & Balances, mit denen ihre Abschaffung anhand demokratischer Mittel verhindert werden sollte. Gewaltenteilung, Verfassungen und bürgerliche Rechte sollten der Willkür momenthafter Mehrheitsentscheidungen einen Riegel vorschieben. Erfolgreich war man damit nicht immer, wie gerade unser Land leidvoll zu berichten weiß.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich jedoch zumindest im Westen die Demokratie als dominante Staatsform durchgesetzt. Auch die Diktaturen im Süden Europas fielen in den folgenden Jahrzehnten, bis es dann mit der weltpolitischen Wende 1989/1990 kein Halten mehr gab. Einige wähnten sich bereits am Ende der Geschichte, als der Siegeszug der Demokratie nun auch die ehemaligen Staaten des „Ostblocks“ erfasste. Doch bald schon trübte sich die Siegesstimmung. Das Phänomen, das in den 1990er Jahren mit Silvio Berlusconi in Italien und mit Jörg Haiders FPÖ in Österreich seinen Anfang nahm und mittlerweile in fast allen Staaten Europas vorhanden ist, oftmals sogar in Regierungsverantwortung, ist vielfach benannt worden: Populismus, Autoritarismus, Nationalismus, Neofaschismus, jeweils in linken und rechten Variationen. Mit einiger Verspätung ist es in Form der AfD auch in Deutschland angekommen.

Die Debatte darüber, wie diesem Phänomen am besten beizukommen ist, läuft ebenso lange, wie es das Phänomen AfD gibt. Etwas hilflos wird immer wieder von den „demokratischen Parteien“ auf der einen und von der AfD als „undemokratische Partei“ auf der anderen Seite gesprochen, um eine Abgrenzung vorzunehmen. Was aber, wenn diese Trennung gar nicht aufgeht? Die AfD sieht sich selbst keineswegs als „undemokratisch“, sondern eher als urdemokratisch, auch wenn – nur im scheinbaren Widerspruch dazu – bereits eine Art Führerfigur bereitsteht, die sich nur zu gern als Verkörperung eines imaginierten „Volkswillens“ in Szene setzen würde. 

Mithin, so zumindest die Vertreter populistischer Parteien, handelt es sich beim momentanen Ringen (noch?) nicht um einen Kampf gegen die Demokratie, sondern um einen Kampf innerhalb des demokratischen Lagers. Wir sehen: Es hängt alles vom Demokratieverständnis ab. Der Politikwissenschaftler Marcel Lewandowsky bringt diesen Umstand in seinem jetzt vorliegenden Werk „Was Populisten wollen“ auf eine bündige Formel: 

„Populistische Parteien sprechen diejenigen an, die sich für die wahren Demokraten halten (aber oft keine sind), die glauben, nicht in einer Demokratie zu leben (obwohl sie es tun), und die «echte» Demokratie wollen (die in Wahrheit keine wäre).“ 

Dieser diskursive Angriff auf die herrschenden Verhältnisse konnte erst Erfolge zeitigen, nachdem ordentlich Verwirrung gestiftet wurde. So attestiert die AfD den klassischen Mitte-Rechts-Parteien gerne, „nicht mehr“ in dem Sinne konservativ zu sein, den sich die AfD vorstellt. Zu Regierungszeiten Angela Merkels mag das für viele noch angegangen sein, tatsächlich aber schwebt der AfD ein völkisch-nationalistisches Deutschland vor, das es weder unter Kohl noch unter Adenauer gegeben hat. Im Gegenteil war es ja gerade die repräsentative Demokratie im Rahmen der westlichen Bündnisse, für die der deutsche Konservatismus nach 1945 stand; eine Konstellation mithin, die die AfD mit Zorneseifer bekämpft und durch eine identitär-plebiszitäre Volksdemokratie östlichen Zuschnitts zu ersetzen trachtet.  

Lewandowskys Hauptthese, die er in vielen Varianten und mit reichlich Anschauungsmaterial darlegt, besagt: Gerade die Sicherungsmechanismen, die in der modernen Demokratie eingebaut sind, um den ungebremsten Volkswillen einzuhegen und der Missbrauchsanfälligkeit dieser stets prekären Staatsform beizukommen, sind es, die Populisten für undemokratisch halten. Nicht umsonst ist etwa bei den MAGA-Republikanern Donald Trumps immer wieder vom „Deep State“ die Rede. Hierbei handelt es sich um die Fantasie einer Art „wahren“ Regierung im Hintergrund, die jenseits der nur simulierten Demokratie agiert. Wird Trump dann vor Gericht verurteilt, ist das für seine Anhängerschaft nicht etwa Ausweis eines funktionierenden Rechtsstaats, der ohne Ansehen der Person eine Straftat sanktioniert, sondern vielmehr ein Beleg für ein Komplott der „Eliten“, die alle diejenigen stoppen wollen, die dem „wahren“ Volkswillen zum Durchbruch verhelfen wollen.

All die Ideen von den „normalen“ Menschen, „draußen“ im Lande – in den USA spricht man vom „Heartland“ –, die gegen „urbane Kosmopoliten“ in Stellung gebracht werden, spießt Lewandowsky genüsslich auf und reiht sie in sein Analysemuster ein. „Deutschland – aber normal“ plakatierte die AfD im Bundestagswahlkampf 2021, womit natürlich gesagt wird, dass eine ganze Reihe von Menschen, die sich das Land irgendwie geklaut haben, eben nicht „normal“ seien. Beim bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger hieß es in seiner notirischen Erdinger Rede (2023), die „schweigende Mehrheit“ müsse sich „die Demokratie zurückholen“. 

Neu sind Lewandowskys Thesen nicht. Das zentrale Merkmal der Populisten als denjenigen, die sich als die „wahren“ Volksvertreter sehen, wurde vielmehr bereits 2016 in Jan-Werner Müllers „Was ist Populismus?“ eingehend beleuchtet. Neu sind die vielen Beispiele für längst bekannte Wirkmechanismen, die in den letzten acht Jahren dazugekommen sind. Wer also beim Populismus ohnehin ein Störgefühl hat, der wird reichlich bedient und in seiner Ablehnung bestärkt. Wer aber tatsächlich der Meinung ist, Justiz, Medien und Verfassungsschutz seien lediglich Instrumente in der Hand der Regierenden, um damit konkurrierende politische Strömungen niederzuhalten, der wird sich auch durch Lewandowskys mitunter süffisant vorgetragene Beispiele nicht bekehren lassen.

Komplexer liegen die Dinge da bei dem Politikwissenschaftler Philip Manow, der als Populisten-Versteher unter den zeitgenössischen Politikdeutern gelten darf. Schon länger treibt ihn sein Befund um, moderne Demokratien würden demokratische Elemente immer weiter zurückbauen. Manow sieht einen „Konstitutionalisierungsschub“ der letzten dreißig Jahre, der Aspekte des politischen Lebens zusehends in den Bereich der Verfassungsjustiz verschoben habe, und fragt provokant: Wer rettet die Politik vor der Justiz? Bereits vor einigen Jahren war bei Manow von einer „Entdemokratisierung der Demokratie“ (2020) die Rede. Jetzt nimmt er die „liberale Demokratie“ an sich ins Visier und fragt nach deren Herkunft. In der Tat ist es ja erstaunlich, dass die Bezeichnung „liberale Demokratie“ erst seit einigen Jahren im Umlauf ist, gleichzeitig aber so getan wird, als sei sie in der demokratischen Welt nach 1945 die allgemeingültige Norm gewesen. Der Populismus, so Manow, sei „eine Krankheit, die von einem neuen (liberalen) Verständnis der Demokratie hervorgebracht wird“, er sei „nicht der Gegner, sondern das Gespenst der liberalen Demokratie“, er müsse „als Wiedergänger der vom Liberalismus erstickten Politik verstanden werden“.

Das ist harter Tobak, der so nur vorgetragen werden kann, da Manow dem Liberalismus zusehends autoritäre Tendenzen unterstellt. Er sieht einen Gegensatz zwischen „elektoraler Demokratie“, wo Wahlen wirklich etwas ändern können, und der gegenwärtigen „liberalen Demokratie“, bei der zentrale Fragen des Zusammenlebens in einen gleichsam vorpolitischen Raum verfrachtet worden seien. „Unter Beobachtung“ sei hier das wählende Volk, dem man schlimmste Irrationalitäten zutraut, derer man sich durch zusätzliche Kontrollinstanzen zu erwehren sucht. „Das liberale Projekt“, so Manow, „scheint in immer kürzeren Abständen ins Autoritäre umzuschlagen“.

Unwillkürlich fragt man sich, ob Manow die Demokratie nicht unter zu hohen Partizipationserwartungen erstickt. Es ist jedenfalls nicht bekannt, dass Adenauers Westbindung, Brandts Ostpolitik, Schmidts NATO-Doppelbeschluss oder Kohls Euro-Einführung Ergebnisse intensiv-plebiszitärer Stuhlkreiskampagnen gewesen sind. Doch so sehr Manows Gedanken überraschen und mitunter befremden mögen, sind auch sie ja nicht neu, sondern wurden vielmehr bereits 2018 durch den Politikwissenschaftler Yascha Mounk formuliert, der einen Gegensatz zwischen der „illiberalen Demokratie“ etwa eines Viktor Orban auf der einen, und dem „undemokratischen Liberalismus“ etwa der EU-Institutionen erkennen wollte. Und auch der SPD-Vordenker Michael Bröning erkannte vor ein paar Jahren in „Vom Ende der Freiheit“ (2021) gerade im sogenannten progressiven Langer den Trend, Freiheit als politisches Ideal immer geringer zu schätzen. Stattdessen konstatierte er ein aktuelles Faible für illiberale Sicherheitsversprechen, Intoleranz in Form von Cancel Culture und eine Absage an universalistische Freiheitsversprechen zugunsten identitätspolitischer Spaltungen.

Wie nun Manow all dem begegnen möchte, davon liest man im Buch nichts. Ein Plädoyer, das Verfassungsrecht wieder zu entschlacken, sucht man vergebens. Einem AfD-Parteiverbot erteilt er eine Absage, da dies eine Maßnahme sei, die man zwar regelmäßig in der Türkei durchführe, die aber zum liberalen Verständnis Deutschlands nicht passe.

Das aber ist ein schwacher Trost, da unsere Demokratie nun nicht einmal nicht ohne Grund „unter Beobachtung“ ist, sondern vielmehr seit Jahren angegriffen wird. Von Innen durch Demokratieverächter im Demokratiegewand, und von außen durch den russischen Revanchismus, der mit hybriden Mitteln versteht, vorhandene Bruchlinien in der Gesellschaft genüsslich auszuweiten. Könnte es nicht sein, dass bei Manow die Kausalitäten durcheinandergeraten? Ist es nicht zumindest denkbar, dass das Konzept der „wehrhaften Demokratie“, das in Weimar entwickelt, damals gescheitert ist, heute mit Verve gegen die neuen Feinde der (liberalen) Demokratie ganz zu Recht in Anschlag gebracht wird? Und wäre das die Art Lernen aus der Geschichte, die so oft ersehnt wird? Diese Frage müssen offen bleiben, sind aber, die Europawahl hat es gezeigt, aktueller denn je.

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