Demut und Dankbarkeit: Zu 75 Jahren Grundgesetz

Ich bin ein weißer, cis-normativer Hetero-Mann und die große Gen-Lotterie hat es ausgerechnet so gefügt, dass ich zu dieser Zeit an diesem Ort geboren wurde, leben durfte, und – wenn alles gut geht – das auch noch ein paar Jahrzehntchen so weitergehen wird. Privilegierter geht kaum.

Dieser Ort, das ist die Bundesrepublik Deutschland, eines der sichersten, wohlhabendsten, sozialsten und liberalsten Länder der Erde, auf dem Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen immerhin Platz 7 (2022). Diese Zeit, das ist die Zeit der Gültigkeit von 75 Jahren Grundgesetz, das ist eine Epoche menschlichen Lebens an diesem Ort, die so friedfertig, zivilisiert und fortschrittlich ist, wie nie zuvor in der gesamten Weltgeschichte.

Doch was lese ich angesichts dieses Jubeltages? Frust, Ärger und Enttäuschung raunen aus einem Blätterwald heraus, der nur das Ergebnis wohlstandsverwahrloster Langeweile sein kann.

Oh, all die Krisen! Die Flüchtlingskrise! Wo war das denn bitte eine Krise? Für wen? Und überhaupt Corona! Es scheint immer mehr, als sei das Virus eine fixe Idee der damaligen Regierung zum Kujonieren der Bevölkerung gewesen und als gälte es jetzt, dieses furchtbare Kapitel deutscher Geschichte analog zu den zwei Diktaturen endlich aufzuarbeiten. Welches Land ist eigentlich besser durch die Pandemie gekommen? Gibt es da Kandidaten? Und die Ukraine, das stresst schon gewaltig, Krieg in Europa, das schlägt auf die Stimmung. Fragen wir doch mal eine durchschnittliche Ukrainerin, deren Haus bombardiert wird und die vor Fliegeralarmen kaum entspannte Stunden mehr kennt, wie schlimm ihr unsere Doom-Scrolling-Probleme so vorkommen. Und das furchtbare Heizungsgesetz! So ein Regierungsversagen. Das ist doch mindestens ein Grund, dieses Mal Nazis zu wählen, um es denen „da oben“ mal so richtig zu zeigen. Und überhaupt: Nichts darf man mehr sagen! Sagt auch die Wagenknecht, und die sagt wenigstens, wie es ist.

Ständig sieht sich irgendjemand gegängelt, stigmatisiert, vulnerabel, ausgegrenzt, markiert. Schlimm das alles. Kaum sagste „Ausländer raus“, schon wirste in die rechte Ecke gestellt. Aber ich polemisiere. Jetzt nochmal in seriös. RND-Kommentar heute: „Lange wurden Hinweise auf die Mängel bei der Integration von Geflüchteten als rechtsextremes Gedankengut etikettiert.“ Ich schwöre: Wer mir auch nur EIN Beispiel liefern kann, bei dem das passiert ist, bei dem irgendjemand Nennenswertes jemanden als „rechtsextrem“ etikettiert hat, nur weil er auf Mängel hingewiesen hat, der bekommt von mir einen Blumenstrauß mit Karte und Widmung und alles. Hingegen kann ich gefühlt eine Million Beispiele für Sätze wie den aus dem Kommentar nennen, bei dem ein Mechanismus so oft postuliert und ventiliert und perpetuiert wird, bis er vor lauter Selbstreferentialität zur gefühlten Realität wird. Die Stimmung ist da echt schlechter als die Lage.

Und es schlägt ja auch auf die Stimmung: Ständig möchte irgendjemand für seine „Lebensleistung“ belohnt werden. Aber sorry Leute, wer hat denn je gesagt, dass man für bloßes Leben Dankbarkeit erwarten kann? Es gibt wirklich Flecken auf dieser Erde, wo einem weitaus mehr an „Lebensleistung“ abverlangt wird als ausgerechnet im friedlichen, freien und wohlhabenden Deutschland, Südsudan etwa. Ich kenne eine junge Kommunalpolitikerin, die aus einer Zwangsehe mit ihren beiden Kindern nach Deutschland geflüchtet ist, sich hier mit Putzjobs über Wasser gehalten hat und die beiden Kinder bis zum Studium gebracht hat. DAS ist vielleicht eine Lebensleistung. Aber doch nicht das bloße Morgens-aufstehen-und-zur-Arbeit-fahren, das Politiker:innen in anheimelnder Absicht jetzt ständig als Heldentat zelebrieren.

75 Jahre Grundgesetz im Westen. Wie geil ist das denn? Und 34 im Osten. Einheit in Freiheit. Ist das nicht auch mega-geil? Warum jetzt nochmal darüber sinnieren, was alles hätte sein können? Referenden, neue Verfassung, mag ja alles sein. Aber echt mal: Es gibt wirklich schlimmere Schicksale, als in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eintreten zu dürfen.

Das Grundgesetz ist ziemlich progressiv, cool, dynamisch, oftmals eher Auftrag als Status Quo, es geht mit der Zeit, atmet, es ist längst nicht alles erfüllt, wir müssen weitermachen, besser werden. Es gibt immer noch viel zu tun. Wir haben noch keinen Kita-Platz für unsere Tochter. Das nervt. Aber das kriegen wir auch noch irgendwie hin.

Ist dieser Text möglicherwiese unausgewogen, blauäugig, gar naiv, oder noch schlimmer: aus dem Elfenbeinturm des urban-elitären Linksliberalismus herausgeschrieben? Möglich. Bei tausend selbstmitleidigen Kritikastereien darf es doch auch mal einen durchweg positiven Beitrag geben. Ich empfinde zwei geradezu konservativ anmutende Tugenden, wenn ich an 75 Jahre Grundgesetz denke: Demut und Dankbarkeit.

Demut, weil man sich doch echt mal bewusst machen muss, wie außergewöhnlich und unwahrscheinlich das alles ist, das einem solch ein Glück zuteil wird. Und Dankbarkeit, weil das ja auch ein Geschenk war und ist, das uns Deutschen da völlig unverdienterweise gemacht wurde. Wäre doch wirklich bekloppt, bei dieser Sachlage den ganzen Tag rumzuheulen.

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