Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik (Rezension)

Jetzt sind die Zeiten wohl bald vorbei, in denen die „großen Männer“, die ehedem Geschichte schrieben, ihre voluminösen Memoirenwerke vorlegen – in teils erhellender, oftmals allerdings eher in verklärender Absicht. Bei Bismarck waren es drei Bände, Adenauer brachte es – wie später auch Kohl – auf vier. Bei Wolfgang Schäuble ist es am Ende ein einziger dicker Brocken geworden. Der Mann war zwar nie Kanzler oder Präsident, was seiner Laufbahn, besser: seiner Epoche, immer wieder das Epitaph eingebracht hat, „unfertig“ zu sein, dennoch ist eine derart lange Karriere in führender Position ungewöhnlich genug. Rund 650 Seiten Zeitgeschichte bis in die allerjüngste Vergangenheit gibt es hier zu bestaunen.

Vielleicht hält sich das Buch deshalb seit vielen Wochen an der Spitze der Beststeller-Listen, weil das Publikum spürt, dass hier eine Epoche zu Ende geht; die alte Bundesrepublik, die klassische CDU, das wahrhaft (und nicht nur reklamiert) Konservative, „der alte weiße Mann“, der dennoch stets nach vorne denkt … Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Schäuble nicht streng chronologisch referiert, sondern immer wieder vorausgreift, einordnet, revidiert, auf das Hier und Jetzt bezieht. So entsteht nicht nur ein Memoirenband, sondern auch ein Stück deutsche Geschichte mitsamt Zeitkommentar.

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Um noch einmal das Spektrum zu aufzuspannen, das hier verhandelt wird: Als Schäuble 1972 in den Deutschen Bundestag einzog, war Willy Brandt Bundeskanzler und die sogenannten Ostpolitik Thema der Stunde. Als er 2022 seine 50-jährige Parlamentszugehörigkeit feierte, hieß der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Deutschland kam gerade aus der Corona-Krise und der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine war fast ein Jahr alt. Schäuble war Kanzleramtschef und Innenminister unter Helmut Kohl, verhandelte den deutsch-deutschen Einigungsvertrag und galt lange als „Kronprinz“ des Einheitskanzlers. Nach Kohls Abwahl 1998 wurde er stattdessen sein Nachfolger im Amt des CDU-Parteivorsitzenden, nur um dann im Zuge der Spendenaffäre zu stürzen – Stichwort Geldkoffer. Der Wiederaufstieg erfolgte unter der unerwarteten Bundeskanzlerin Angela Merkel erneut als Innenminister, später als europaweit bekannter – manche sagen: berüchtigter – Finanzminister. In der Griechenland- oder Eurokrise, avancierte Schäuble zum zentralen Protagonisten der „Ausgabendisziplin“ – andere sagen: der Austerität. Innenpolitisch bleiben aus dieser Zeit – je nach Lesart – ausgeglichene Haushalte im Zeichen der sogenannten „schwarzen Null“ oder auch vertane Chancen in Zeiten billigen Geldes.

Das Buch gliedert sich sachlogisch in die Kohl-Jahre und die Merkel-Jahre mit der Spendenaffäre als raues Zwischenspiel. Schäuble arbeitete an dem Werk mit Unterstützung der beiden Historiker Hilmar Sack und Jens Hacke bis kurz vor seinem Tod im Dezember 2023. Zum Schluss wird es merklich episodenhafter, die Erzählung weniger dicht. Die Kohl-Jahre überwiegen, doch auch hier wird vieles im Stil von Anmerkungen nur referiert. Das liegt zum Teil daran, dass Schäuble bereits einige Schwerpunktmemoiren etwa zur Deutschen Einheit oder zur CDU-Spendenaffäre vorgelegt hat, liegt aber auch darin begründet, dass er Dinge, die ihm nicht in den Kram passen, gerne mal übergeht.

Zum NSU-Terror liest man weniges und auch nur pflichtschuldiges. Kritik an seiner Finanzpolitik bügelt er kurzerhand hab. So habe es immer genug investive Mittel gegeben, die dann aber nicht abgerufen worden seien. Besonders merklich sind die Lücken bei Kohls System der schwarzen Kassen. Schäuble will nie von irgendwas gewusst haben. Schon bei den Skandalen der 1980er Jahren (Flick und Parteispenden, Neue Heimat, Barschel-Affäre) beklagt er eine „allgemeine Erregungsbereitschaft“ und gibt auch gleich der SPD noch eins mit: „Es war die erklärte Strategie von SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz, das öffentliche Bewusstsein immer wieder auf kleinere Skandale und Affären der CDU zu lenken und damit die «geistig-moralische Wende» zu karikieren.“ Fragt sich nur, ob diese sich dergestalt nicht ganz von selbst karikiert hat.

Nein, von Großmut oder Gelassenheit zeugen Schäubles Memoiren nicht. Es ist vielmehr überraschend, wie viele Personen der Zeitgeschichte, die teilweise auch noch in Amt und Würden sind, eins ausgewischt bekommen. Da ist natürlich zuvorderst Helmut Kohl. Nach dem Bruch im Zuge der Spendenaffäre war das Tischtuch zwischen den beiden endgültig zerschnitten. Als Revenge für erlittene Schmach holt Schäuble seinen alten Chef aus historischen Höhen zurück auf den Boden menschlicher Schwächen. Während Kohls jährlicher Fastenkur etwa habe dieser ihn wiederholt antanzen lassen, und dabei folgende Denkwürdigkeit produziert: „Kohl bat mich extra, ein Stück Pflaumenkuchen mit Schlagsahne zu bestellen – aber nur, damit er daran riechen könne.“ Das Ende vom Lied: „Das Gewicht hatte er nach ein paar Wochen ohnehin schnell wieder drauf.“

Und dann ist da immer wieder die CSU, mit der Schäuble wohl gleich mehrere Rechnungen offen hatte und die er erklärtermaßen nicht für kanzlerfähig hielt, da sie in einem solchen Szenario „ihre Besonderheit als bayerische Staatspartei und zugleich wichtige bundespolitische Kraft verlieren würde.“ Kaum ein CSU-Grande, der hier nicht eine paar bissige Bemerkungen abbekommt. Über Franz-Josef Strauss: „Man konnte ihn kaum ernst nehmen, wenn er sich um Mitternacht herum für die Unterstützung des südafrikanischen Apartheid-Regimes einsetzte, um den Weltkommunismus in die Schranken zu weisen.“ Horst Seehofer attestiert er süffisant einen „wachen Sinn für Stimmungsumschwünge“. Edmund Stoiber habe ihn auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise zum Kanzlerinnensturz anstiften wollen, Karl-Theodor zu Guttenberg sei schnell „vom Stern zur Sternschnuppe“ verkommen und was die Auseinandersetzung zwischen Markus Söder und dem von Schäuble favorisierten Armin Laschet in der Frage der Kanzlerkandidatur 2021 angeht, so stimmt er mit der Darstellung in Robin Alexanders Standardwerk „Machtverfall“ im Großen und Ganzen überein, fügt jedoch einschränkend hinzu, Alexanders „Hauptquelle für die internen Gespräche und Verhandlungen hinter verschlossener Tür“ habe „wohl vor allem in München“ gelegen.

Darüber hinaus bekommt natürlich die SPD einiges ab, insbesondere für ihre Russland-Politik in den frühen 1980er Jahren und im Vorfeld der Wiedervereinigung. So sehr Schäuble hier oftmals zuzustimmen ist, so scheinen seine Beurteilungen erkennbar von den Geschehnissen ab dem Februar 2022 geprägt und manch eigene zeitgenössische Einschätzung im Nachhinein passend gemacht worden zu sein. Zwar beklagt er im Vorwort „Klugscheißerei“ derer, die im Nachhinein in punkto Putin & Co. immer schon alles besser wussten, nur um dann später im Buch darzulegen, dass er selbst es eigentlich immer schon besser gewusst habe. Gleichwohl: Dass die Union in den 1980er Jahren mit ihrer Russland-Politik richtiger gelegen hat als die SPD-Opposition, wird hier zurecht reklamiert.

Doch weiter in der Auflistung derer, die ihr Fett wegbekommen: Jürgen Habermas („Großdenker“), Gerhard Schröder („substanzlos“), Horst Köhler (Zweifel, ob er die Rolle des Bundespräsidenten „richtig verstanden“ habe), Thomas de Maizière („überfordert“), die FDP („Hybris“ nach dem guten Wahlergebnis 2009), Frank-Walter Steinmeier („strapazierte“ 2017/2018 „die Rolle des Staatsoberhaupts“), die Thüringer CDU 2020 („irrsinniges Verhalten“), Ralf Brinkhaus (konnte Erwartungen nicht erfüllen). Olaf Scholz, der sich im Erfolg der globalen Mindestbesteuerung gesonnt habe, die doch eigentlich Schäubles Verdienst gewesen sei, bekommt zum Thema CumEx und Warburg-Bank noch aufs Brot geschmiert, dass die Aufarbeitung dieser Vorgänge „bislang an der Ampel-Koalition gescheitert“ sei.

Erstaunlich, wer bei dem überzeugten Transatlantiker Schäuble hingegen gut wegkommt: Da ist zum einen der „Schicksalsgenosse“ Oskar Lafontaine, mit dem er die Gemeinsamkeit hatte, „Attentatsopfer eines Geisteskranken“ zu sein und den er für einen „außergewöhnlich klugen Kopf“ und einen „scharfen, oft brillanten politischen Redner“ hielt, der sich allerdings „in späteren Jahren verrannt hat“. Da ist zum anderen Lothar de Maizière, der erste demokratisch gewählte und zugleich letzter Ministerpräsident der DDR, über den Schäuble menschlich nur Gutes zu berichten weiß und den er wiederholt als „Freund“ bezeichnet. Was sie politisch geeint haben mag, darüber berichtet Schäuble nichts, und das ist auch die zentrale Pointe bei der Beschreibung einer für die politische Gegenwart äußerst wichtigen Figur, nämlich Friedrich Merz, immerhin möglicher nächster Kanzlerkandidat der Union, für dessen CDU-Parteivorsitz Schäuble sich bekanntlich eingesetzt hat.

Auch Merz wird wiederholt als „Freund“ bezeichnet, doch auch hier scheint es sich eher um menschliche als um politische Zuneigung zu handeln. Anders ist es kaum erklärbar, dass Schäuble in so ziemlich allen Themen, für die Merz steht, eine teilweise diametral entgegengesetzte Meinung vertritt. Es findet sich im Buch nur ein einziges, quasi dialektisches Argument für den Kurs der Merz-CDU:

In ihm erkannte Schäuble 2018 den Mann, „der den Mut hat, nicht nur das Ende einer Diskussion abzuwarten, sondern sie selbst zu gestalten. Er würde damit zwar auch auf Widerstand stoßen, aber das würde der zu sehr auf Alternativlosigkeit getrimmten politischen Debatte doch guttun und es dadurch erleichtern, wieder zu einer Integration der politischen Kräfte zur Mitte hinzubekommen. Die politischen Ränder würden dadurch wieder schwächer, hoffte ich, und unser politisches System dadurch stabilisiert.“ Man sagt wohl nicht zu viel, wenn man feststellt, dass diese Strategie krachend gescheitert ist – was natürlich nicht nur, aber zumindest auch Friedrich Merz anzulasten ist.

Doch schauen wir jenseits von machttaktischen Erwägungen auf die zahlreichen Themen, die Schäuble von Merz inhaltlich trennten. Zum Thema Umweltschutz: „Rückblickend waren wir mit unseren selbstzufriedenen Vorstellungen auf dem falschen Dampfer – zu lange bewahrten wir uns ein naives Vertrauen in traditionelle Industrie- und Wachstumspolitik.“ Zu den Grünen: „In mancherlei Hinsicht war mir das grüne Milieu zugänglicher als die Klientel der FDP.“ Zum Thema Steuerreform: „Von einem Einkommenssteuertarif mit wenigen Sätzen, also einem Stufentarif, geschweige denn von einem Einheitssteuersatz, der sogenannten flatrate, habe ich nie viel gehalten, auch nicht, als mein Freund Friedrich Merz in seiner berühmten Bierdeckel-Rede auf dem Parteitag in Leipzig dafür gefeiert wurde.“ Zum Thema „Leitkultur“: Die um 2006 intensiv geführte Debatte fand er „nicht grundfalsch“, konnte ihr aber auch nicht viel abgewinnen: „Eine Debatte über abstrakte Begriffe wirft wenig gesellschaftlichen Mehrwert ab und neigt zur akademischen Spiegelfechterei. Außerdem emotionalisiert und im schlimmsten Fall radikalisiert sich das gesellschaftliche Klima über aufgeladene Begriffe.“ Zum Thema Islam: Der „glücklosen“ Präsidentschaft Christian Wullfs konnte ein Satz „etwas Glanz“ verleihen, so Schäuble, nämlich der Satz: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Mithin handelt es sich um einen Satz, den die Merz-CDU im neuen Grundsatzprogramm rückabgewickelt hat.

Besonders prägnant ist, was Schäuble seiner Partei zu den Themen Asyl und Migration ins Stammbuch schreibt:

„Neben stärkeren Anstrengungen gegen die existentiellen ökologischen Bedrohungen bleiben die globalen Migrationsbewegungen mit ihren Auswirkungen auf die Stabilität unserer Ordnung eines der zentralen Zukunftsprobleme. Dabei stehen wir weiter vor dem Dilemma, der Bevölkerung einerseits zu vermitteln, dass sich die Politik dem gewaltigen Problem der Migration annimmt, und gleichzeitig Stimmungen nicht aufzuheizen, sondern deeskalierend zu wirken. Wie gut uns diese Gratwanderung gelingt, ist von entscheidender Bedeutung für das gesellschaftliche Klima. Deshalb kann ich meiner Partei nur raten, nicht die gleichen Fehler wie in der Vergangenheit zu machen. Der verantwortliche Umgang mit dieser hochsensiblen Aufgabe verlangt auch weiterhin Härte und Herz.“

Schäuble als altersmilder Konservativer auf dem Weg zum Linksliberalismus, gar ein Schwarz-Grüner? Noch dazu einer, dessen Urteil über Angela Merkel überaus differenziert und überwiegend positiv ausfällt? Spannend jedenfalls, was er dem Parteinachwuchs mit auf den Weg gibt: „Ich bin (…) verwundert, wenn ich heute gelegentlich beobachte, wie sich als Symptom der Frühvergreisung Teile der jungen Generation in der CDU rechts vom Mainstream positionieren“. Betrachtete Schäuble Friedrich Merz, das Idol so vieler Jungunionisten, also nur als eine Art Stabilisator, der die Grundlagen dafür legt, dass ein modernerer Kandidat das Kanzleramt für die Union zurückerobern kann? Das alles sind Spekulationen, zu denen die Lektüre dieser in jeder Hinsicht gehaltvollen Memoiren einladen. Etwas Sphinxhaftes hat sich die politische Ausnahmegestalt Wolfgang Schäuble stets bewahrt: „Ich lüge nicht gerne. Aber um später nicht dementieren zu müssen, kann man auch nicht immer offen die Wahrheit sagen.“ Ob es sich dabei selbst um eine fromme Lüge handelt, dass müssen künftige Chronisten erörtern.

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