Gedanken anlässlich einer neuen Biografie
Eine Brandt-Biografie in dieser Zeit kommt nicht ohne Putin-Bezug aus: Wie schaut man heute, ein Jahr nach der russischen Invasion auf die Ostpolitik? Führt eine Linie von den Ostverträgen direkt zu Putins Angriff auf die Ukraine? Und gibt es sie überhaupt, die eine Ostpolitik?
Elfmal findet sich der Name „Wladimir Putin“ im Personenverzeichnis. Brandt ist 1992 gestorben, Putin erst seit 1999 in Ämtern, wenn auch nicht in Würden. Der Biograf löst das Anachronismusproblem mittels einer Frage: Hat Brandt uns mit seiner Politik eine „Flaschenpost“ hinterlassen, die wir jetzt lesen können? Wie hätte Brandt entschieden? Was wäre der Kurs der Bundesrepublik in der aktuellen Krise unter einem Kanzler Brandt?
Das Ergebnis, so muss leider gesagt werden, ist etwas mager – und auch etwas enttäuschend. Aber vielleicht dennoch oder gerade deshalb realistisch? Ein vorsichtiges Abwägen, ein „donnerndes Sowohl-als-auch“, der Verweis, dass man die Verhältnisse von damals nicht auf die heutige Konstellation übertragen könne – vielmehr gibt es da nicht. Dafür gibt es viele Wertungen des Autors, der sich im aktuellen Diskurs deutlich als Anhänger des Teams Habermas zu erkennen gibt. Dessen Text aus dem April 2022 wird zustimmend zitiert. Und mehr noch: „Widersprochen hätte Brandt wohl jenen Stimmen im Westen, die sich seit 1990 als Sieger der Geschichte betrachteten und die Ausdehnung der NATO propagierten. Der Jalta-Politiker in ihm, der er auch bleib, mahnte zur Vorsicht. George Kennans Warnung (1997), die historische Bedeutung der Ukraine für Russland nicht zu vergessen, hätte er ganz gewiss ernst genommen – aber da lebte Brandt bereits nicht mehr.“
Hofmanns Darstellung der aktuellen Debatte gerät dabei merkwürdig verzerrt, und verfehlt deshalb den Kern der Auseinandersetzung. Soll nach dem Februar 2022 wirklich die gesamte Ostpolitik in Bausch und Bogen verdammt werden? Entsprechende Stimmen nimmt Hofmann gehäuft wahr. An solchen Pappkameraden lässt sich dann trefflich abarbeiten. Tatsächlich aber müssen doch mindestens drei Phasen unterschieden werden: Die ermöglichende Phase der Ostpolitik in den 1970er Jahren, die verhindernde Phase in den 1980ern und – nach einer Art Pause – die pervertierte unter Schröder & Co. Die Forschung ist da längst weiter als die holzschnittartige Darstellung im vorliegenden Band. Zugegeben: Es handelt sich um eine Brandt-Biografie und nicht um einen Zeitkommentar. Doch etwas ausgewogener hätte das entsprechende Schlusskapitel doch sein dürfen.
Dem Politikwissenschaftler, Philosophen und Ex-ZEIT Autor Hofmann geht es ohnehin um andere Gefechte: Stimmen, die für eine deutliche Unterstützung der Ukraine sprechen, ordnet er nahezu umstandslos ins rechte politische Lager ein, dorthin, wo man schon beim Historiker-Streit auf der falschen Seite stand, wo die Bundesrepublik stets als machtvergessene, große Schweiz galt, dort, wo der „Hurrapatriotismus“ zu Hause ist. Ein etwas verquerer Leserbrief aus der FAZ soll diese Kontinuitäten belegen – nicht gerade eine einschlägige Quelle. Dass es diese Kontinuitäten gibt, wer wollte es bestreiten? Doch wie wirkmächtig wären sie, wenn es nicht noch ganz andere Zugänge zum Thema gäbe!
Gibt es nicht auch eine antifaschistische Tradition, für die Brandt auch steht, und die sich heute notwendigerweise gegen Putin richten muss? Das Wesen sowjetrussischer Gewaltherrschaft hatte er, der spätere „Kalte Krieger“ im Berliner Bürgermeisteramt, bereits im Spanischen Bürgerkrieg kennengelernt. Grundlage der Ostpolitik blieb immer die Westbindung der Bundesrepublik. In diesem Sinne war auch Joschka Fischer als Außenminister stark durch Willy Brandt geprägt. Dessen Plädoyer für den Kosovo-Krieg 1999 nicht trotz, sondern gerade wegen Auschwitz referiert Hofmann, ohne diesen Umstand ins Verhältnis zu Brandts Ostpolitik zu setzen. Der Name Baerbock fehlt hingegen völlig.
So kann das Bild einer Ukraine-Hilfe entstehen, die sich nahezu ausschließlich aus revisionistischen Sinnquellen speist. Progressive Zugänge fehlen in Hofmanns knappen Notizen. Willy Brandt, und alles, wofür er stand, war in seiner Zeit zweifelsohne ein Progressiver, der jedoch die Deutschen nicht überforderte und eine Art „moralischer Entlastung“ offerierte. Doch wie progressiv kann eine Politik noch sein, die vor fünfzig Jahren erdacht und ins Werk gesetzt wurde? Die Heutigen setzen auf ihr auf, müssen jedoch ihre eigenen Antworten finden. Das imperialistische Russland Putins ist nicht die status-quo-orientierte Sowjetunion.
Und das ist vielleicht die Hauptaussage aus all dem: Dass jede Zeit ihre Orientierung sucht. Dabei kann man in die Geschichte schauen und auch bei großen Persönlichkeiten nach Inspiration suchen. Säulenheilige sind dabei jedoch selten von großem Nutzen. Entscheidungen müssen stets nach vorne getroffen werden, ohne zu wissen, wie die Dinge sich entwickeln. Bestenfalls die Plausibilität verschiedener Perspektiven kann beurteilt werden. Dabei scheint es ausgemacht, dass auch ein Kanzler Brandt im Jahre 2022/23 kaum aus dem Geleitzug des Westens ausgeschert wäre.