Warum Populismus, AfD & Reichsbürger keine neuen Phänomene sind – und man ihnen nicht mit weniger Gendern beikommen kann

Liest man alte Texte von George Orwell („Über Nationalismus“) oder Umberto Eco („Der ewige Faschismus“) dann kommt man schnell auf den Gedanken, dass der gegenwärtige Populismus in all seinen Spielarten kein genuin neues Phänomen ist, sondern in geradezu beängstigender Weise auf älteren Phänomenen aufbaut beziehungsweise an diese anknüpft. Wie sollte es eigentlich auch anders sein? Definitionsfragen sind immer schwierig und was die Benamung angeht, reicht das Angebot von Rechtsradikalismus über Faschismus bis Autoritarismus oder eben Rechtspopulismus. Von einem „libertären Autoritarismus“ haben Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey jüngst gesprochen. Bündig wird man derart heterogene Erscheinungen nie erklärt bekommen, handelt es sich ja fast immer um Bündnisse von Menschen mit unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Interessen.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat in seinem letzten Buch eine „Unklarheit“ der aktuellen Demokratiekritik diagnostiziert: „Es hat sich eine gleichermaßen unübersehbare wie unüberhörbare Frustration gegenüber dem Typus der westlichen Demokratien ausgebreitet, ein Oszillieren zwischen Enttäuschung und Ablehnung, das, nach den Gründen der Unzufriedenheit gefragt, weithin diffus bleibt und auch keine anderen Änderungsvorschläge geltend zu machen weiß als die, dass man zu einer direkten Demokratie zurückkehren müsse, in der dem «Volkswillen» wieder die entscheidende Bedeutung zukomme. Wie dieser «Volkswille» ermittelt werden soll, bleibt indes unklar.“

Dabei hat die Münkler’sche Unklarheit wohl schon länger Programm beziehungsweise scheint in Wellen aufzutreten. Der Literatursoziologe Leo Löwenthal hat unter dem Titel „Falsche Propheten“ im Jahre 1948 „Studien zur faschistischen Agitation“ in den USA veröffentlicht (Neuauflage 2021) und es fällt schon enorm schwer, bei dem hier Beschriebenen nicht an MAGA-Republikaner, Brexiteers, AfD, QAnon, Reichsbürger, Querdenker (und wie die einzelnen Gruppen und Subgruppen auch immer heißen) zu denken.

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Bei Löwenthal heißt es über den Sozialforscher, der die Propaganda des „faschistischen Agitators“ zu ergründen versucht: „Er findet zahllose verleumdende und bösartige Hinweise auf Feinde, aber nirgends kann er eine deutlich definierte soziale Ursache entdecken, unter der das Publikum des Agitators offensichtlich leidet.“ Vielmehr findet er in den „diffusen Beschwerden“, „zu deren Sprecher sich der Agitator macht“, eine Reihe von „emotionalen Komplexen“, die uns allesamt aus den Jahren 2016ff bestens vertraut sind und von denen einige hier wiedergegeben werden sollen.

Misstrauen: „Der Agitator spielt mit dem Misstrauen seiner Zuhörer, dass sich auf alle Sozialphänomene bezieht, die sie in ihrem Alltag bedrängen und die sie nicht begreifen. Flüchtlinge aus dem Ausland beuten die «Leichtgläubigkeit» der Amerikaner aus, die er warnt, sich keinen Sand in die Augen streuen zu lassen von «internationalists». Wie ein roter Faden ziehen sich durch alle Äußerungen des Agitators Wörter wie «hoax», «corrupt», «insincere», «duped», «manipulate».

Vorenthaltung: „Der Agitator gibt zu verstehen, dass zwar eine Überfülle materieller und geistiger Güter vorhanden ist, die Massen jedoch um ihren rechtmäßigen Anteil gebracht werden. Die Gelder amerikanischer Steuerzahler werden zum Nutzen alle anderen, nur nicht ihrer selbst verwandt.“

Angst: „Dieser Komplex zeigt sich in der allgemeinen Vorahnung der Katastrophe, die sich in den Ängsten der «middle-class» hauptsächlich als eine totale Veränderung ihres Lebens durch revolutionäre Aktionen darstellt. Hinzu kommt der Verdacht, dass die moralischen Fundamente des gesellschaftlichen Lebens unterminiert werden.“

Desillusionierung: „Dieser Kampf wird deutlich in Bemerkungen, mit denen der Agitator die demokratische Politik als «make-believe, pretense, pretext, sham, fraud, deception, dishonesty, falsehood, hypocrisy …» charakterisiert.“ „Werte und Ideale werden zu Waffen der Feinde, mit Hilfe derer die Machenschaften finsterer Mächte vertuscht werden sollen, «die die grenzenlose Unwissenheit unseres Volkes ausnutzen und der Erfüllung ihrer Zwecke unter dem Deckmantel der Menschenfreundlichkeit und Gerechtigkeit nachgehen.»“

Im weiteren Verlauf der Studie ist dann viel die Rede von den „ewig Betrogenen“, zu denen sich das „einfach Volk“ zählen darf, von angeblichen Verschwörungen und zielloser Unzufriedenheit und immer wieder von Untergängen, die bald schon drohen. Schuld daran sind wahlweise „die Roten“, „die Plutokraten, „der korrupte Staat“ oder „der Fremde“.

All das, wie geschrieben, erstaunlich aktuell, was auch zu der Neuauflage der Studie von Löwenthal geführt hat. Wenn nun aber die beschriebenen Phänomene alt sind und immer wiederkehren, dann können sie kaum als aktuelle Reaktionen auf neuere Entwicklungen verstanden werden. Dann handelt es sich vielmehr um eine erprobte Rhetorik, die im Kampf gegen die Demokratie immer mal wieder angewandt wird, und der entsprechend wehrhaft zu begegnen wäre. Auch wenn dann in der Tat zu ergründen wäre, warum diese Rhetorik mal mehr und mal weniger verfängt.

Aktuelle Debatten gehen jedoch zumeist in eine ganz andere Richtung. Vielmehr wird im demokratischen und speziell im linksliberalen Lager sehr viel Selbstkritik geübt und der Aufstieg des Populismus als Reaktion auf eigene Fehlleistungen interpretiert. In diesem Zusammenhang hat der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller bereits von einer „Mea-Culpa-Literatur“ gesprochen. Für diese steht auch Müllers Berliner Kollege Wolfgang Merkel. In der TV-Sendung Markus Lanz (ZDF) gab er zu den Phänomenen hinter der jüngst erfolgten Reichsbürger-Razzia folgendes zu Protokoll:

„Wir sind längst eine Zwei-Drittel-Demokratie. Das untere Drittel ist quasi weggebrochen. Dieses untere Drittel fühlt sich durch eine Art linksliberaler Arroganz ausgegrenzt, bevormundet, kulturell beherrscht. Beispiel: Wer sich in der Geschlechterfrage nicht zeitgemäß oder ungeschickt ausdrückt, ist sofort ein Sexist. Und wer Immigration und offene Grenzen ablehnt, ist sofort ein Rassist.“

Abgesehen von der ausgesprochenen Schlichtheit der letzten beiden Sätze, muss man doch fragen, wie man von einer Verschwörung, an der sich Personen aus dem Sicherheitsapparat, aus Adel, Justiz und Politik beteiligt haben, so nahtlos zu Antidiskriminierung und Migrationspolitik kommen kann. Ob die beteiligten Personen von ihrem Tun abgelassen hätten, wenn in Deutschland weniger gegendert würde oder es eine Novelle zum Asylrecht gäbe? Das zu glauben, hieße doch, die Gefährlichkeit und den Fanatismus der Demokratiefeinde zu verkennen. Sie brauchen keine Anlässe für ihr Handeln. Für sie ist immer Krise, immer Untergang, immer „Not am Mann“, immer Verrat, Verschwörung, „Volksverdummung“. Hinzu kommt: Aus Sicht der offenen Gesellschaft ist dieser Feind – nicht Mitbewerber, nicht Gegner – eigentlich immer derselbe. Und statt ihm entgegenzukommen, seinem irrationalen Tun auch noch Plausibilität zu attestieren, tut eine wehrhafte Demokratie gut daran, hier klare Grenzen zu setzen, wie es jetzt ja dankenswerter Weise auch geschehen ist.

Der oberste „faschistische Agitator“ unserer Zeit, der diese Rhetorik geradezu meisterhaft beherrscht, ist nämlich ein alter Bekannter, und er gab in einer Rede vom 7. Juli 2022 folgendes zu Protokoll:

„Der Westen, der einst Prinzipien der Demokratie wie Freiheit des Worts, Pluralismus und Wertschätzung für die Meinung des anderen hochgehalten hat, degeneriert heute zum genauen Gegenteil – zum Totalitarismus. Dazu gehören Zensur, die Schließung von Medien und die willkürliche Behandlung von Journalisten und Personen des öffentlichen Lebens. Dieser Verbotskurs wird in den westlichen Ländern nicht nur auf die Medien angewendet, sondern auch auf Politik, Kultur, Bildung und Kunst – auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Mehr noch, man drängt dieses Modell – das Modell des totalitären Liberalismus, einschließlich der berüchtigten Cancel Culture, der allgegenwärtigen Verbote – der ganzen Welt auf, oder man versucht es zumindest. Aber die Wahrheit ist, die Realität ist, dass die Menschen in den meisten Ländern ein solches Leben und eine solche Zukunft nicht wollen, dass sie in Wirklichkeit nicht nach formaler, dekorativer Souveränität streben, sondern nach substanzieller, echter; dass sie es einfach satthaben, auf den Knien zu liegen und sich zu erniedrigen vor diesen Leuten, die sich für etwas Besseres halten und zu ihrem eigenen Schaden deren Interessen zu bedienen.“

Sein Name ist übrigens Wladimir Putin.

Ein Kommentar zu „Falsche Propheten von gestern und heute

  1. Das ist wirklich interessant. Und das Schlimme ist, dass sich in der Kritik an den westlichen Demokratien und dem voherrschenden Mainstream viele auch ganz normale Menschen wiederfinden können. Es scheint tatsächlich so, dass der sachliche Diskurs, das fröhliche kontroverse Streiten um Themen einer sauertöpfischen moralinsauren Besserweisserei gewichen ist. Gendern und die Klimadebatte sind längst zu einem Mittel sozialer und intellektueller Distinktion, zur oberflächlichen Performance und zu einer machterhaltenden Ideologie verkommen. Wer gehört dazu und wer nicht mehr? Eine urbane obere Mittelschicht gibt vor – und das ist das Gefühl nicht weniger Menschen – wie wir zu sprechen und zu denken haben. Es wird auch nicht klug argumentiert, sondern in die Ecke gestellt. Wenn Lieder gesungen werden wie „Meine Oma ist ein Umweltschwein“ und aufrechte Naturschützer, die es eben nicht gut finden, dass der Reinhardtswald für einen Windpark platt gemacht wird als „Blut-und-Boden-Ideologen“ beschimpft werden, dann führt das weder zu mehr sozialen Zusammenhalt noch begeistert es für die Themen, die bearbeitet werden müssen. Auch die Einseitigkeit der Debatte um Diversität ist erschreckend: Da werden Uni-Sex-Toiletten gefordert für eine kleine Minderheit von Inter- und Transsexuellen. Barrierefreie Toiletten oder überhaupt Barrierefreiheit sind kein Thema für den Mainstream, obwohl eine steigende Zahl von Menschen mit Hindernissen beim Reisen, bei der Kultur, beim Einkauf usw. konfrontiert ist. Was Inklusion anbelangt, ist Deutschland ein reines Entwicklungsland. Alte, Arme und Menschen mit Behinderungen sind bei den Regenbogenfähnchen nicht unbedingt mitgemeint. Da wird sich beim Gendern fast die Zunge verknotet, aber das Kind auf das Privatgymnasium geschickt, damit es nicht mit Kindern mit Migrationshintergrund zusammen die Schulbank drückt: Das ist der Eindruck zumindest des unteren Drittels der Bevölkerung. Themen wie Frieden, Umweltschutz und Gendergerechtigkeit sind zu einem gewissen Teil zu Worthülsen und modischer „Performance“ verkommen. Es fehlt der sachliche, wertschätzende Diskurs und der Blick aufs Ganze. Und dies ist eine echte Gefahr für die Demokratie. Rechtspopulisten und Faschisten können den Unmut vieler Menschen dann geschickt aufgreifen und vereinnahmen. Das bedeutet: Der Rechtspopulismus ist die Kehrseite einer arroganten (soziale Probleme ausklammernden und ideologisch hermetischen) urbanen Bildungsschicht. Nur die gegenseitige Wertschätzung, das Zuhören und das saubere Argumentieren können diese Demokratie retten. Dialog und Wertschätzung über die sozialen, ethischen und ideologischen Grenzen hinaus könnten gegen den aufkeimenden Faschismus helfen. Solidarität zwischen Menschen….Naja und Putin wirft immer anderen das vor, was er macht … Unterdrückung der Presse und so weiter. Er ist ein Lügner und Mafiosi, der die Schwachstellen des Westens gerne durch Trollaktivitäten nutzen möchte. ..und leider gelingt dies ja zum Teil. Mit Populismus, Faschismus und Gewalt beschäftige ich mich aus historischer und psychologischer Sicht seit Jahrzehnten. Hier noch ein weiterer Erklärungsansatz, der vielleicht interessant sein könnte: https://rotherbaron.com/2017/10/09/gelangweilte-krieger/

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