Während die Historisierung des Ukraine-Krieges in vollem Gange ist, versuchen die politisch Beteiligten, ihr Bild in der Geschichte gerade zu rücken. Dabei gehen die Deutungen nach wie vor auseinander.

Minsk II steht heute für eine Reihe von Vereinbarungen für die selbst ernannten Republiken Donezk und Luhansk, die sich 2014 unter russischem Einfluss von der Ukraine losgesagt hatten. Das Abkommen wurde vom französischen Präsidenten François Hollande, der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko sowie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgehandelt und von den Teilnehmern der Trilateralen Kontaktgruppe (Russland, Ukraine, OSZE) am 12. Februar 2015 unterzeichnet.

Heute gilt „Minsk“ gemeinhin als gescheitert. Im Grunde war es das bereits Tage nach der Unterzeichnung, als russische Truppen zum Sturm auf Debalzewe antraten und den Ort drei Tage nach der offiziell verkündeten Waffenruhe eroberten. Kurz vor der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 erklärte dann auch Putin selbst, dass er keine Aussichten für einen Erfolg von Minsk mehr sehe – was immer ein „Erfolg“ für ihn auch gewesen wäre. Bei den wechselnden ukrainischen Regierungen war das Abkommen ohnehin verhasst. Als der damalige Bundesaußenminister eine Initiative vorschlug, um den stockenden Minsk-Prozess wieder zum Laufen zu bringen („Steinmeier-Formel“), machte ihn das in Kiew regelrecht zur persona non grata – mit Folgen, die noch im April 2022 bei seiner Ausladung von einem Staatsbesuch in Kiew sichtbar wurden.

Minsk – das ist heute vielerorts auch ein Synonym für eine gescheiterte Russland-Politik insbesondere Deutschlands und für unterlassene Hilfeleistung gegenüber der Ukraine. Da sämtliche Punkte des Abkommens umstritten waren, setzte Kiew einen Großteil davon auch in den Folgejahren nicht um. Und Moskau leugnete bis zuletzt seine Rolle als Kriegspartei, um die Mär von einer spontanen prorussischen Volkserhebung im Donbass aufrecht erhalten zu können. Der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch, fasste ukrainische Bedenken gegen das Abkommen so zusammen: „Sollte es zu der (…) festgeschriebenen Dezentralisierung des Landes kommen, so die Befürchtung, bekäme Russland über die Donbass-Region weitgehende Mitspracherechte am künftigen Weg der Ukraine – es hätte den «Fuß in der Tür». „Da Kiew «nicht lieferte»“, so von Fritsch weiter, „gelang es Moskau in der Tat nicht, sein wohl wichtigstes Ziel zu erreichen, dauerhaft Einfluss in der Ukraine nehmen zu können.“

Insgesamt geschah all dies zu einer Zeit, in der Berlin und Paris in weiten Teilen der EU für ihre als zu konzessionsbereit wahrgenommene Haltung gegenüber Moskau argwöhnisch beäugt wurden. Neben der offensichtlich völkerrechtwidrigen Annexion der Krim und dem militärischen Eingreifen in der Ostukraine muss hier auch der Abschuss der Passagiermaschine MH17 mit 298 Todesopfern in Erinnerung gerufen werden, der durch eine russische Flugabwehrrakete ausgelöst worden war.

Iuliia Barshadska hat die damalige EU-Politik in ihrer Dissertation „Brüssel zwischen Kiew und Moskau. Das auswärtige Handeln der Europäischen Union im ukrainisch-russischen Konflikt 2014-2019“ unter die Lupe genommen: „Eine gesamteuropäische Position wurde immer wieder unterlaufen durch Berliner und Pariser Telefonate mit Putin, in denen Zugeständnisse gemacht wurden.“ Doch auch die EU insgesamt vertrat nicht gerade eine klar proukrainische Linie: „Während der russischen Besetzung der Krim übte der Westen starken Druck auf Kiew aus, sich nicht militärisch zur Wehr zu setzen. Blauäugig setzte die EU auf eine diplomatische Lösung des Konflikts und bot Russland diplomatische Lösungen an.“

Was nun das Minsker Abkommen angeht, gibt Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien, in einem aktuellen Buch Folgendes zu Bedenken: „Ausgehandelt und unterschrieben unter militärischem Druck, ist das Abkommen insgesamt nicht vorteilhaft für die Ukraine. Zu den Streitpunkten gehörten neben dem letztendlichen Status der nicht von Kiew kontrollierten Gebiete und Wahlmodalitäten vor allem die Verschränkung der politischen und sicherheitsbezogenen Punkte. Russland stellte sich auf den Standpunkt, erst ganz am Ende des Prozesses der Ukraine die Kontrolle über ihr gesamtes Staatsgebiet zurückzugeben, während die Ukraine diesen Zugang zur Staatsgrenze früher zurückerhalten wollte.“

Gleichzeitig räumt sich jedoch auch ein, dass sowohl Minsk I als auch Minsk II „aus der Not geborene Waffenstillstandsabkommen“ waren, durch die „zu einem kritischen Zeitpunkt eine weitere Eskalation des Kriegsgeschehens“ verhindert werden konnte. „Ohne die Vereinbarung wären die sich abzeichnenden Kosten für die Ukraine noch weiter gestiegen und ihre Staatlichkeit schon 2014 stärker bedroht gewesen. Damals gab es keinen politischen Willen innerhalb der NATO, die ukrainische Regierung militärisch zu unterstützen – und die ukrainischen Streitkräfte waren noch nicht so gut aufgestellt wie heute.“

Ähnlich argumentieren auch Wilfried Jilge, Mitarbeiter am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, und Stefan Meister, Programmleiter bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: „So wurde die russische Aggression zumindest gebremst und der Ukraine Zeit zum Ausbau der eigenen Verteidigung gegeben. Die von Deutschland unterstützte und auch dank der lebendigen ukrainischen Zivilgesellschaft schnell fruchtende Reform der kommunalen Selbstverwaltung in der Ukraine hat den lokalen und nationalen Patriotismus gestärkt, was wiederum die Überlebensfähigkeit der Städte in der Ost- und Südukraine im Angriffskrieg Russlands gefördert hat.“ (F.A.Z., 12.12.2022)

Es ist genau diese Sichtweise, die heute auch Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel einnimmt:

„(D)as Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben.“ „Sie hat diese Zeit hat auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht. Die Ukraine von 2014/15 ist nicht die Ukraine von heute. Wie man am Kampf um Debalzewe (…) Anfang 2015 gesehen hat, hätte Putin sie damals leicht überrennen können. Und ich bezweifle sehr, dass die Nato-Staaten damals so viel hätten tun können wie heute, um der Ukraine zu helfen.“ „Es war uns allen klar, dass das ein eingefrorener Konflikt war, dass das Problem nicht gelöst war, aber genau das hat der Ukraine wertvolle Zeit gegeben.“ (DIE ZEIT, 07.12.2022)

Freilich – und darauf weisen sowohl Sasse als auch Jilge/Meister hin – falls es wirklich darum gegangen sei, der Ukraine Zeit zu verschaffen, dann wurde diese Strategie durch die Nord-Stream-2-Politik der deutschen Bundesregierung konterkariert und weder der 2018 abgeschlossene Bau der Krimbrücke – an sich ein Bruch des Völkerrechts! – noch der Beschuss von Schiffen der ukrainischen Marine im selben Jahr führten zu Kurswechseln oder etwa einer Verschärfung der Sanktionen gegen Russland – im Gegenteil: Aus weiten Teilen des politischen Mainstreams in Deutschland – ob aus SPD, CDU/CSU oder FDP – kamen verstärkt Rufe nach deren Aufhebung. Wie man es dreht und wendet. Die deutsche Rolle in der Vorgeschichte und in den ersten Phasen des Krieges gegen die Ukraine ist keine rühmliche. Was Minsk angeht, scheinen aber zumindest Zweifel angebracht, ob es sich wirklich um reines Appeasement gehandelt hat – oder ob der Ukraine damit nicht in der Tat Zeit verschafft wurde. Allerdings stellt sich selbst bei einer solchen Deutung die Frage nach der Ablehnung des NATO Membership Action Plans (MAP) durch Deutschland und Frankreich im Jahre 2008. Und aus einer solchen Sicht sind dann alle gescheiterten Eindämmungsbemühungen gegenüber Russland lediglich Folgefehler.

BILD CREDIT: Von Kremlin.ru, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38345346

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