Während der Krieg gegen die Ukraine andauert und die russische Armee ihr Vernichtungswerk nun ganz auf die Zerstörung der Infrastruktur konzentriert, ist die Debatte über Hintergründe und Folgen des Krieges im vollen Gang. Naturgemäß fällt dabei viel Aufmerksamkeit auf Kreml-Chef Putin, der, so scheint es, jene euphemistisch als „Spezialoperation“ titulierte Invasion des ukrainischen Nachbarn quasi im Alleingang angeordnet hat. Die Erörterung des Geschehens umkreist dabei immer wieder drei zentrale Fragestellungen, die für den Moment als ungeklärt gelten müssen:
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War Putin von Anfang ein derart brutaler Schlächter und Kriegsverbrecher oder hat er sich im Laufe der Jahre durch interne und externe Einwirkungen radikalisiert?
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Ist all das Gerede vom ukrainischen Brudervolk, ist die ganze imperiale Nostalgie nur eine Finte, um vom eigentlichen Ziel abzulenken, der Stabilisierung eines auf den steten Zufluss neuer Pfründe ausgelegten Mafia-Regimes? Sprich: Wie ernst nimmt Putin seine eigene Propaganda?
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Kann das aktuelle russische System Putin überleben, oder wird es mit seinem Abgang notwendigerweise kollabieren („Putin only“)? Oder ist Putin vielmehr selbst eine mehr oder weniger zufällig ausgewählte Figur einer Kaste von Strippenziehern, die auch wieder einen neuen Anführer aus dem Hut zaubern können, so wie sie es mit Putin einst auch getan haben („Putinismus ohne Putin“)?
Zu 1: War Putin von Anfang ein derart brutaler Schlächter und Kriegsverbrecher oder hat er sich im Laufe der Jahre durch interne und externe Einwirkungen radikalisiert?
Was dafür spricht, dass Putin von Anfang an ein mörderischer Despot gewesen ist:
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Die Umstände, unter denen es zum Zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) gekommen ist, die fingierten Terroranschläge in Moskau mit über 200 Toten (siehe hierzu insbesondere David Sattler, Darkness at Dawn: the Rise of the Russian Criminal State).
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Kontinuität von Kriegsverbrechen Tschetschenien – Georgien – Syrien – Ukraine.
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Der sukzessive Abbau der Demokratie seit Amtsantritt: Von einer „Fassadendemokratie“ bis hin zur jetzigen faschistischen Diktatur.
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Was für die „Radikalisierungsthese“ spricht:
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Rede auf Münchner Sicherheitskonferenz 2007 als Reaktion auf Fehler des Westens?
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Erkennbar zunehmende innenpolitische Repression ab ca. 2011.
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Zusehends antiwestliche Rhetorik und Aufbau der NATO als Feindbild.
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Abkehr von jeglicher Modernisierungsstrategie zugunsten eines nunmehr offen revisionistischen Kurses (Heil in der Vergangenheit suchend, an vergangene Größe anknüpfend, Rehabilitierung von Stalin und Sowjetunion).
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Zu 2: Ist all das Gerede vom ukrainischen Brudervolk, ist die ganze imperiale Nostalgie nur eine Finte, um vom eigentlichen Ziel abzulenken, der Stabilisierung eines auf den steten Zufluss neuer Pfründe ausgelegten Mafia-Regimes? Sprich: Wie ernst nimmt Putin seine eigene Propaganda?
Was für eine vorgeschobene Begründung spricht:
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Russische Oppositionelle wie Leonid Wolkow (Autor von „Putinland“) nehmen all das Gerede von imperialer Nostalgie kein Stück ernst und halten es für eine Fassade.
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Auch die eurasische Philosophie eines Dugin sei nur Mittel zum Zweck für Menschen, die so etwas brauchen.
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Ohne den Aufbau von Feindbildern und ohne Repression hätten sich die Proteste von 2011-2013 weiter ausgeweitet und schnell zu einem Ende des Systems Putin führen können.
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Putins Gerede von einer „Entnazifizierung“ und zuletzt sogar „Entsatanisierung“ der Ukraine ist so lächerlich, dass er eigentlich daran selbst kaum glauben kann.
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Vielmehr spricht vieles dafür, dass der Krieg gegen die Ukraine und die krasse Repression im Inneren ein System stabilisieren soll, dass auf der Versorgung einer Reihe von Schlüsselfiguren beruht, die in der Öffentlichkeit zum Teil kaum bekannt sind (so Wolkow und so auch eine aktuelle Debatte in Frankreich: „Ein Krimineller im Politikerkostüm“).
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Was dafür spricht, dass Putin es wirklich ernst meint mit seiner Rhetorik vom ukrainischen Brudervolk und von russischer Größe, die es wiederherzustellen gilt:
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Der Diskurs knüpft an russische Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts an: Weite Teile der russischen Intelligenzia sind seit eh und je der Ansicht, dass es die Ukraine als eigenständigen Staat nicht geben sollte, dass es sich vielmehr um eine Art Kleinrussland handelt.
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Episode aus dem Jahr 1994: Als der damalige estnische Ministerpräsident Lennart Meri in seiner Rede beim festlich-exklusiven Matthiae-Mahl im Rathaus von Hamburg davor warnte, dass die Russen die Vorherrschaft im Osten anstrebten, soll der damalige St. Petersburger Vizebürgermeister Putin seine Serviette entrüstet auf den Tisch geworfen haben. Hernach sei er, so berichteten es Augenzeugen, „mit durchgedrückten Knien, einen verächtlichen Blick auf den Gastgeber werfend, aus dem Saal marschiert – jeder Schritt begleitet vom Knarzen des Parketts“.
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Putins berühmtes Diktum vom Untergang der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (2005).
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Putins auffallend obsessive Beschäftigung als Hobby-Historiker in den letzten Jahren und seine diesbezüglichen Essay-Veröffentlichungen.
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Versuch einer Synthese:
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Das Sein bestimmt das Bewusstsein: Vielleicht ist die Geschichtsrhetorik nur die im Nachhinein vorgenommene eigene Verbrämung von zuvor bereits vorhandenen ökonomischen Interessen und Abhängigkeiten.
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Zu 3: Kann das aktuelle russische System Putin überleben, oder wird es mit seinem Abgang notwendigerweise kollabieren („Putin only“)? Oder ist Putin vielmehr selbst eine mehr oder weniger zufällig ausgewählte Figur einer Kaste von Strippenziehern, die auch wieder einen neuen Anführer aus dem Hut zaubern können, so wie sie es mit Putin einst auch getan haben („Putinismus ohne Putin“)?
Was für „Putin only“ spricht:
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Leonid Wolkow ist der festen Überzeugung, dass das System ohne Putin kollabiert (allerdings ist er sehr optimistisch und sieht danach alles auf den derzeit Inhaftierten Nawalny zulaufen, was längst nicht ausgemacht ist).
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Im Moment ist keine Figur sichtbar, die Putins System weiterführen könnte. Vieles spricht vielmehr für eine Situation, wie sie nach Stalins Tod entstand: 5 Jahre Grabenkämpfe und Intrigen, bis schließlich Chruschtschow das Rennen machte. Immerhin: Diese Periode nannte man „Tauwetter“.
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Was für einen „Putinismus ohne Putin“ spricht:
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Folgt man den sehr präzisen Ausführungen der britischen Journalistin Catherine Belton („Putins Netz“), dann wird sichtbar, dass die Kaste, die Putin hervorgebracht hat, auch einen anderen Kandidaten hervorbringen könnte.
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Nach Belton hat nicht Putin den Mafia-Staat geschaffen, sondern der Mafia-Staat hat vielmehr Putin geschaffen.
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Antworten wird wohl nur die Zukunft bringen können.
BILD CREDIT: Moscow rally 24 December 2011, Sakharov Avenue – By Bogomolov.PL – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17787053
Ich war 2001 in Russland, als der 11. September passierte. Bei Freunden in Wolgograd verfolgte ich im Fernsehen life die Auswirkungen der furchtbaren Attentate radikaler Islamisten in den USA. Es wurde offen berichtet, die Betroffenheit war groß. Kurz nach dem Einsturz des zweiten Turms des World Trade Center wandte sich Wladimir Putin per Ansprache an die Öffentlichkeit. Ein Jahr zuvor hatte er sich menschlich eiskalt gezeigt, als die „Kursk“ sank, das Vorzeige-U-Boots der russischen Marine. Das Schicksal der 118 Besatzungsmitglieder schien ihn damals kaum zu interessieren. Nun aber erlebte ich einen Putin, der mich erstaunte: Er zeigte Mitgefühl, verwendete mehrmals das russische Wort dafür, „saschustwie“. Er sprach von „unseren amerikanischen Freunden“ und bot seine Unterstützung an. Mir kam seine Anteilnahme aufrichtig vor. Flaggen wurden auf Halbmast gesetzt, Schweigeminuten in ganz Russland abgehalten, intensiv in der (damals noch freien) Presse berichtet. Als bald darauf die USA ihre Militäraktion in Afghanistan startete, um dort Terrorgruppen zu jagen, durften die NATO-Länder russische und zentralasiatische Stützpunkte für den Truppen- und Materialtransport nutzen. Putin sah sich als Verbündeter im Kampf gegen den internationalen, radikalislamistischen Terror, der ja seit den 1990er Jahren auch in Russland bereits tausende Opfer gefordert hatte.
Wladimir Putin habe ich nie wieder annähernd so mitfühelnd wahrgenommen wie damals am 11. September 2001. Kalkül gehörte immer zu seinen Maximen. In den ersten Jahren seiner Amtszeit gab es ja auch gemeinsame Interessen mit westlichen Staaten; die wirtschaftliche Zusammenarbeit nutzte beiden Seiten. Aber Putin ist seine KGB-Prägung nie lsogeworden. Manche frühere DDR-Bürger, die Putin als KGB-Mann in Dresden kannten, hatten ihn eher als unangenehmen Genossen in Erinnerung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und den innenpolitischen Chaos-Jahren unter Boris Jelzin konnte der neue Präsident eine Eigenschaft gut einsetzen, die er beim sowjetischen Geheimdienst von der Pike auf glernt hatte: die Kontrolle gewinnen. Dieses Talent war in den Nullerjahren durchaus gefragt. Der Vielvölkerstaat Russland drohte nicht nur in Tschetschenien zu explodieren; Kriminalität und Korruption hatten vielerorts unberechenbare Zustände geschaffen. Putin zeigte sich als geschickter Netzwerker, wobei er besonders seine alten Seilschaften nutze. Seine Verbündeten wurden mit Privilegien belohnt und kamen meist schnell zu Reichtum. Der ehemalige Dresdner KGB-Mann war effektiv darin, weil er auch ein anderes Element seines früheren Handwerks beherrschte: wichtige Dinge im Verborgenen zu regeln. Notfalls auch mit unsauberen Mitteln.
Allerdings: Jemand, der – wie Putin – so sehr vom Geheimdienst-Dasein gestempelt ist, gibt Kontrolle und Macht nicht ohne Weiteres wieder her. Kritiker, die sich ihm in den Weg gestellt hatten – Oppositionspolitiker, Journalisten, Bürgerrechtler – bekämpfte er auf schmutzige Weise. Dutzende – ich nenne stellvertretend Anna Politkowskaja und Boris Nemzow – wurden gar ermordet. Da Russland ein viel offeneres Land geworden war, musste Putin befürchten, dass im Falle seines Abtretens unangenehme Dinge über ihn bekannt werden würden: Bereits nach zwei Amtszeiten hatte er schon zu viele Leichen im Keller. (Und das kann man durchaus wörtlich nehmen.) Dass Macht etwas mit Menschen macht, ist beim russischen Präsidenten nicht zu übersehen. Er ist in eine Teufelsspirale geraten, aus der er angesichts seines schwierigen Charakters nicht mehr herauskommt. Der Verlauf des Kriegs in der Ukraine zeigt einen Sadisten an der Spitze des Staates, der viele andere ansteckt.
Eigentlich entspricht das derzeitige russiche Machtgefüge nach den Rückschlägen in der Ukraine einem klassischen Putsch-Szenario: Es gibt für die Männer an der Spitze des Militärs nichts mehr zu gewinnen, aber noch mehr zu verlieren. Doch in den letzen Jahren sicherte Putin geschickt seine Macht zunehmend durch konzentrische Kreise Begünstigter ab, die teilweise die Aufgabe bekamen, sich gegenseitig zu kontrollieren und von Amts wegen zu misstrauen. Kaum jemand von ihnen liebt Putin, aber sie alle haben etwas zu verlieren, wenn Putin verliert. Die aufgestaute Brutalität der Getriebenen entlädt sich in immer perverserer Kriegsführung in der Ukraine. In dieser Lage MUSS alles dafür getan werden, dass der Diktator im Kreml, der das internationale Völkerrecht auf Schlimmste geschändet hat, nicht durchkommt. Es ist wichtig für Europa und die Freie Welt, dass die Ukraine durchhält und die fremden Truppen aus dem Land jagt. Und wenn es Jahre dauern sollte! Verhandlungen mit Russland kann und darf es nicht geben, solange Putin noch an der Macht ist und noch russische Soldaten auf ukrainischem Boden stehen.
Das führt schließlich zur Frage nach Russlands Zukunft. Unabhängig davon, wie lange Putin sich noch im Kreml wird halten können: Wenn der Krieg in der Ukraine zu einem Ende kommt, ist es gut möglich, dass die Gewalt in Russland weiter gehen wird. Die Wirtschaft ist kaputt, viele junge Fachkräfte haben das Land verlassen. Putin hat alles dafür getan, um jegliche demokratisch-liberale Opposition plattzumachen. Er dürfte sich nach einer Niederlage in der Ukraine schnell weg vom Fenster sein, aber einen politischen Erben hat er nicht aufgebaut. Jemand von den Qualitäten eines Boris Nemzow ist weit und breit nicht zu erkennen. Der Kampf um die Nachfolge könnte brutal werden. Jeder Kandidat dafür bräuchte eine breitere Unterstützung in Volk, Staatapparat und Armee, die nicht vom Himmel fallen wird. Im Militär wird es rumoren. Ich sehe viel Bürgerkriegspotenzial.
Alles an Putin ist Fassade. Er kennt kein Mitgefühl, keine Verantwortung, keine Skrupel. Er ist und war auch niemals ein Staatsmann, sondern ein Mafia-Pate. Und genauso funktioniert auch der Putinismus. Er besteht aus Angst, Gefälligkeiten, organisierter Kriminalität. Ich glaube auch, dass das Gemache um „Russkij Mir“, russiche Werte und Kultur nur dazu dient, konservative Nationalisten, Nostalgiker und Popen einzubinden. Putin geht es nur um sich, sein Geld, seine Macht. Alles andere ist wechselndes Theater.