Der SPIEGEL-Journalist René Pfister warnt vor einer „neuen linken Ideologie aus Amerika“, die „unsere Meinungsfreiheit bedroht“. Die konservative Denkfabrik R21 veranstaltet einen Kongress zum Thema und sieht sogar „unsere Freiheit“ allgemein in Gefahr. Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub gibt hingegen Entwarnung und spricht von periodisch auftretender „moralischer Panik“, die eher etwas über konservative Verunsicherung als über linke Umtriebe aussagt. Früher wetterte man gegen „politische Korrektheit“, jetzt halt gegen „woke“. Alter Wein in neuen Schläuchen.
Stimmt so nicht, sagt Yascha Mounk, der in Harvard internationale Beziehungen lehrt: Es gäbe eine „gefährliche Selbstzensur“ unter seinen Studierenden, die aus Angst vor „Hexenjagden“ in den sozialen Medien lieber nichts sagten, als sich bei kritischen Themen zu exponieren. Wir müssten dafür kämpfen, so Mounk, dass „angstfreie Debatten wieder möglich werden“.
Gefühlte Wahrheiten also auf allen Seiten?
Einen größeren Bogen spannt der Publizist Jörg-Uwe Albig in dem Band „Moralophobia“. Er reiht die aktuellen Kämpfe in den Jahrhunderte alten Kampf der „Moralfeinde“ gegen den zivilisatorischen Fortschritt ein. Es gehe eigentlich um ein Festhalten an Privilegien und um den Versuch, den gesellschaftlichen Fortschritt aufzuhalten.
Und während all dies passiert, wird die Gesellschaft ja in der Tat vielfältiger, bunter und – ja – auch gerechter. Inklusion wird zur Normalität. Kaum eine Gesprächsrunde, in der nicht darauf geachtet wird, dass auch jede:r zu Wort kommt. Kaum ein Podium, dass nicht angemessen besetzt ist – und wenn doch, dann wird das gleich zum Thema. Kaum eine Sprecher:innenposition, die nicht reflektiert wird. Kompetenz will begründet sein. Der Kampf ist dennoch längst nicht gewonnen. Roll-backs drohen überall. Kaum ein Thema lässt weltweit so sehr die Köpfe rauchen wie Gleichstellung und Anti-Diskriminierung.
Und doch sind gerade hierzulande die Fortschritte der letzten Jahre und Jahrzehnte doch mit Händen zu greifen! Nun sage niemand, dass wäre alles auch einfach so gekommen. Hätte sich von selbst so entwickelt. War im Grundgesetz seit jeher so angelegt und musste sich auf festen Bahnen gleichsam natürlich erst entfalten. Nein. Es bedurfte einiger weniger Aktivist:innen, die irgendwann anfingen und der Masse als ziemlich gestört galten. Da wurde viel experimentiert. Es gab auch Irrwege, Sackgassen und in manchen Fällen wurden und werden Trennungslinien beim Versuch sie zu überwinden im Gegenteil erst zementiert. Eine Absage an den Universalismus, wie sie der Philosoph Omri Boehm mit Sorge feststellt, ist in jedem Fall eine ganz schlechte Idee – egal ob Kant jetzt Rassist war oder nicht.
Und doch sickerte der progressive, zivilisatorische Gehalt dieser Bewegung langsam in den gesellschaftlichen Mainstream ein und ist mittlerweile von dort kaum mehr wegzudenken. Dass es immer wieder Übertreibungen gab und gibt – wer wollte es leugnen? Der TAZ-Journalist Stefan Reinecke hat diesbezügliche Überlegungen in einem Bericht über den eingangs erwähnten R-21-Kongress bündig zusammengefasst:
«Der ehemalige US-Präsident Barack Obama hat die linken Bewegungen in den USA einst ermahnt: „Don’t be too woke.“ Für die politische Kultur in Deutschland wäre es günstig, wenn Liberal-Konservative den Satz „Don’t be too antiwoke“ beherzigen würden.»
Was nun jene „Übertreibungen“ angeht, von denen die Rede war – nicht jede Dreadlocks-Frisur ist gleich eine moralische Katastrophe – so kann man tatsächlich den Historiker Andreas Rödder gegen den Kulturkämpfer Andreas Rödder in Stellung bringen. In seiner „kurzen Geschichte der Gegenwart“ (2015) hieß es über die Umweltbewegung der 1980er in übertragungswürdiger Klarheit:
„Aus der Rückschau erweisen sich die Szenarien als überzogen. Aktuell dienten sie als Motivation zum Handeln. Dass die Vorhersagen nicht eintraten, kann an den erfolgten Reaktionen oder der fehlerhaften Prognose liegen. So stellt sich die Grundsatzfrage, ob unseriöse Übertreibungen nötig sind, um Prozesse in Gang zu bringen.“