Adam-von-Trott-Lecture vom 24. November 2022
Historiker versuchen im Nachhinein, Ordnung in die vielfältigen, sich gegenseitig widersprechenden Entwicklungen und Ereignisse der Gegenwart zu bringen, Trends zu erkennen und Zäsuren zu setzen. Das ist besonders anspruchsvoll im Falle der Zeitgeschichte, die einem bekannten Diktum zufolge „noch qualmt“. Vorschnelle Urteile verbieten sich. Die Dinge entwickeln sich fortwährend weiter und wo heute eine Zäsur erscheint, mag im Nachhinein Kontinuität erkennbar werden. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine stellen sich Fragen historischer Periodisierung neu: Der Kalte Krieg mag 1991 zu Ende gegangen sein, der Ost-West-Konflikt – soviel ist spätestens jetzt klar – hält an.
Timothy Garton Ash ist weltweit einer der profiliertesten Deuter des Weltgeschehens und als er in der niedersächsischen Universitätsstadt Göttingen die diesjährige Adam-von-Trott-Lecture hielt, schloss sich gewissermaßen ein Kreis. Im Jahre 2004 hatte er in Oxford schon einmal eine Adam-von-Trott-Lecture gehalten, doch „welch ein Kontrast war das zu heute!“ Der Historiker spricht von einer um 2004 weit verbreiteten „Hybris“: Die Osterweiterungen von EU und NATO waren erfolgreich verlaufen, die Eurozone wuchs und gedieh, in der Ukraine schien die Orangene Revolution ein demokratisches Zeitalter einzuläuten, eine Europäische Verfassung war in Arbeit. Getragen waren all diese Entwicklungen von einem Geschichtsoptimismus, der sich aus den Ereignissen der weltpolitischen Wende von 1989-1991 speiste. Der Weg in Richtung Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit schien unumkehrbar. Einem bekannten Buchtitel zufolge wähnte man sich vielerorts am „Ende der Geschichte“. Garton Ash spricht von einem „Vulgärhegelianismus“, der sich seinerzeit Bahn gebrochen habe. Noch beim sogenannten Arabischen Frühling ab 2011 habe man den Weg in die Demokratie im Auge gehabt – und nicht das brutalen Scheitern etwa des Prager Frühlings 1968. Dabei war das, was laut Garton Ash 1989-1991 geschah, keine historische Notwendigkeit, keine zwangsläufige Entwicklung, sondern vielmehr ein „einmaliger historischer Glücksfall“, geradezu „ein Wunder“. Vieles musste zusammenkommen, um diesen Glücksfall Realität werden zu lassen: Der weltpolitische Kurs der USA unter Reagan, die Ernennung Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU, günstige Entwicklungen in Ost- und Westeuropa – bis hin zu Zufällen, wie dem versehentlichen Öffnen der Mauer durch Günter Schabowski. Garton Ash sieht hier sehr viel von dem am Werk, was Machiavelli einst „Fortuna“ genannt hatte.

Was im Nachhinein wie eine „Wende aufwärts“ ab circa 1985 erscheint, findet seine Entsprechung in der „Wende abwärts“ seit circa 2004. Ab hier häuften sich die Einschläge, wurde die Erzählung vom allgemeinen Weg in den ewigen Frieden zusehends konterkariert. Und das gerade „im Augenblick des Triumphs“, so das Urteil des Historikers. Da war zunächst das Scheitern der EU-Verfassung nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden (2005). Da war die erstmalige Wahl der Kaczyńskis in Polen (2005). Da war die Brandrede des russischen Präsidenten Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz (2007). Und da war der russische Krieg gegen Georgien (2008) und der Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise, die in eine Eurozonen- und insbesondere Griechenlandkrise (ab 2010) mündete und durch die sogenannte Flüchtlingskrise ab 2015 abgelöst wurde. Hinzu kam der Abbau der Demokratie in Ungarn nach der Wahl Viktor Orbans (2010) und die Zäsur der Krim-Annexion und des beginnenden Kriegs Russlands gegen die Ukraine (2014). Grenzen wurden wieder militärisch verschoben, demokratische Entwicklungen wurden umgekehrt, im „Nachmauereuropa“ wurden wieder Mauern gebaut. Parallel dazu verlief der weltweite Aufstieg des Populismus, der sich insbesondere im Doppelschlag des „furchtbaren Jahres“ 2016 äußerte: Der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und dem Brexit-Referendum in Großbritannien. Und bei alldem wurde die Covid-19-Pandemie mit ihren weltweit rund 6,6 Millionen Toten, den Lockdowns, gigantischen Hilfspaketen und Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft noch gar nicht erwähnt. Erkennbar wird in der Rückschau eine wahre Krisenkaskade.
Der russische Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine ab Februar 2022 markiert laut Garton Ash das endgültige Ende der „Illusionen der Nachmauerperiode“ und zeigt erneut eindrücklich, dass auch Historiker die Zukunft nicht kennen. Dennoch bedarf es „historisch informierter Vermutungen“, um die Gegenwart zu deuten. Wiederkehrende Muster seien dabei besonders lehrreich: Imperien – so auch das russische – geben nicht gerne auf. Sie „schlagen zurück“. Putin war schon immer ein Revisionist. Es bedurfte hierfür keiner NATO-Osterweiterung, die besonders hierzulande oft als Erklärung bis Rechtfertigung für russisches Handeln herangezogen wird.
Warum es dennoch lohnt, die Hoffnung nicht aufzugeben und für ein freies Europa zu kämpfen, zeigt nicht zuletzt das Beispiel des Widerstandskämpfers gegen den Nationalsozialismus Adam von Trott. Der italienische Philosoph Antonio Gramsci hatte von der Notwendigkeit eines „Pessimismus des Intellekts“ und eines „Optimismus des Willens“ gesprochen. Diese Kombination sieht Garton Ash auch beim Wirken von Trotts am Werk: Die Probleme der Gegenwart müssen erkannt und nüchtern analysiert werden. Doch nur, wenn dann auch der Mut aufgebracht wird, erkannte Probleme konstruktiv und beherzt anzugehen, kann Hoffnung entstehen – so Timothy Garton Ash, der seine Überlegungen in einem neuen Buch über die Geschichte Europas weiter ausführen wird. Eine sicherlich lohnende Lektüre – zum Verständnis unserer Zeit und als Grundlage für „historisch informierte Vermutungen“, die Zukunft betreffend.
BILD 1 CREDIT: Von Nettadi – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=62829506
BILD 2 CREDIT: Von Daniel Vegel (www.vegeldaniel.com) – Daniel Vegel, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=57145946