„Vor Ort sein“ – die ursprünglich aus der Bergmannssprache stammende Wendung ist in der Politik längst zur Allgemeinchiffre für die Nähe zum Bürger geworden. Wer nicht „bei den Menschen“ vor Ort ist, der urteilt ohne Kenntnis der tatsächlichen Lage, der regiert „von oben herab“ und nicht „auf Augenhöhe“, manchmal gar „über die Köpfe der Betroffenen hinweg“. Dabei kann es durchaus helfen, wahlweise „ab vom Schuss“ oder „draußen im Land“ zu sein. Immer noch besser als im „Raumschiff Berlin“. Die Wahrheit liegt bekanntlich irgendwo dort, wo die Leute wohnen, „die morgens aufstehen, mit dem Auto zur Arbeit fahren und hart arbeiten, die den Karren am Laufen halten“. Die Wahrheit liegt bekanntlich eben nicht in einem Latte Macchiato, der auf dem Prenzlauer Berg eingenommen wird. „Elfenbeintürme“ sind in dieser Hinsicht völlig out. Ab einem bestimmten Einkommen droht sogar der Verlust der politischen Urteilskraft; und ab einem bestimmten Bildungsgrad sowieso, denn der macht ja bekanntlich blind für die „Sorgen, Nöte und Ängste“, der Menschen, „die morgens aufstehen, mit dem Auto zur Arbeit fahren und hart arbeiten, die den Karren am Laufen halten“. Dort draußen im Land sein reicht jedoch längst nicht mehr aus. Man muss dort auch aus seiner „Blase“ raus, damit mal frische Luft, neue Ideen und Gedanken reinkommen, auch mal andere Lebensrealitäten „stattfinden“, damit man da auch mal „hinguckt“. Nun könnte man meinen, in Zeiten des Internets haben wir eher zu viel als zu wenig Kontakt mit anderen Blasen. Beispiel: Während man früher so manch einen Mitschüler für immer aus den Augen verlor – und dankbar dafür war! –, bekommt man heute über soziale Netzwerke ja doch immer noch mit, was der so treibt. Viel Irritation entsteht gerade dadurch, dass uns das Handeln in anderen Blasen, das uns ja jederzeit abrufbar deutlich vor Augen steht, so überaus kritikwürdig vorkommt. Der etwas merkwürdige Onkel mit seinen Verschwörungstheorien „fand“ früher nur zu besonderen Familienanlässen „statt“. Heute ist der omnipräsent und wird sogar US-Präsident. Trotzdem, hinaus in Provinz und Fläche, vor Ort sein, aus der eigenen Blase rauskommen – unerlässlich für’s politische Urteilen.
Auftritt meine Mutter. Ich lebe seit Jahren in London und wir reden über die Bundestagswahl 2009. „Bekommst du das eigentlich alles so mit, da in England?“, fragt sie. Kuriose Frage, denke ich. Was ist der Unterschied, ob ich in London oder in Fallingbostel ins Internet gehe? Das war noch ein paar Jahre, bevor „Vor-Ort-Sein“ so richtig in Mode kam. Also gut: Von außen betrachtet sind die Dinge ja manchmal klarer als mittendrin. Aber „professionelle Beobachter des politischen Geschehens“, des „Politikbetriebs“, die müssen schon wissen, wie die Stimmung im „politischen Berlin“ ist. Wie bekommt man das raus? Über Kontakte, Netzwerke, Quellen. Mit denen man in der Regel über Handy kommuniziert. Egal, von woher. Aber man kann sich natürlich auch „vor Ort“ mit ihnen treffen, zum Beispiel im Café Einstein, Unter den Linden. Eine andere Möglichkeit sind die zahlreichen „Hintergrundgespräche“, „Kaminabende“, „Impulsvorträge“, „Keynote Speeches“, „Jour Fixes“ und was es nicht noch alles gibt. Oft organisiert durch Lobbyisten und garantiert immer mit Buffet hinterher. Wer was auf sich hält, verschwindet natürlich direkt nach dem Vortrag. Termine! Am Buffet stehen in der Regel die Opfer, die sich auf diese Art und Weise ernähren oder auf der Suche nach Kontakten sind. So richtig hochwertig sind die Kontakte am Buffet meist nicht, so dass man sich in der Regel gegenseitig mit Anekdötchen langweilt. Um nun aus diesen Gesprächen „die Stimmung im politischen Berlin“ zu evozieren, muss man darauf achten, wie hoch die Augenbrauen des Gegenübers als Reaktion jeweils gehen. Je höher die Augenbrauen, desto abwegiger in der Regel das, was man gerade gesagt hat. Angestrengtes Schmunzeln oder lustlose Bejahungen können ebenfalls Indikatoren dafür sein, wie sehr die eigenen Ausführungen gängigen Semantik- und Diskurskonjunkturen entsprechen. Da nun aber jene gängigen Semantik- und Diskurskonjunkturen eben nicht dasjenige widerspiegeln, was gerade wichtig ist, kommt man „vor Ort“ im „politischen Berlin“ in der Regel auch nicht weiter. Wäre man jetzt zwischen 2015 und 2022 überall herumgelaufen und hätte den Stopp von Nord Stream 2 gefordert, hätte man damit sich damit kaum als „lohnender“ Gesprächspartner qualifiziert, eher als ideologisch angehauchter Querulant mit Russland-Problem. Hinzu kommt ja noch, dass das, was das „politische Berlin“ beschäftigt, nicht nur nicht das ist, was gerade wirklich wichtig ist, sondern auch nicht das, was die Leute „draußen im Land“, also „vor Ort“ beschäftigt. Da kreist dann oft der „polit-mediale Komplex“ um sich selbst und weiß nicht mehr, was der Facharbeiter, der partout nicht gegendert werden will, eigentlich so denkt und fühlt. Was braucht es also? Urteilskraft.
Wie aber im Dickicht der gegensätzlichen Erzählungen den Überblick behalten? Gegenseitig sprechen sich die Menschen ja eben jene Urteilskraft ab: „Nicht vor Ort“, „mit dem Raumschiff direkt auf den Elfenbeinturm geflogen“, „Mainstream“, „gefangen in der Blase“, „abgehoben“, „auf die falschen Experten hörend“, „die falschen Medien konsumierend“, „keinen Blick mehr habend für das, was wirklich zählt“ – das sind so die gängigen Muster. Der grüne Vordenker Ralf Fücks vom Institut Liberale Moderne traut sich diese Woche nach Schwedt in Brandenburg. Wenn Ende des Jahres kein Erdöl aus Russland mehr kommt, dann sieht es für die dortige Raffinerie und die Stadt selbst zappenduster aus. Fücks spricht auf einer Versammlung vom russischen Angriffskrieg und von Solidarität mit der Ukraine. Selbstverständlichkeiten, die allerdings mit höhnendem Gelächter quittiert werden. Warum höhnend? Warum Gelächter? Weil die, die hier vor Ort lachen, andere Quellen haben, anderen Geschichten glauben. Das Sein bestimmt schließlich das Bewusstsein. Und wenn das alles nur eine US-Erfindung ist, um Europa und Russland auseinanderzudividieren, wenn in der Ukraine nun wirklich ein Nazi-Regime an der Macht ist – dann kann doch eigentlich alles weitergehen wie bisher. Sollen die da verhandeln, ist nicht unser Krieg, Frieden schaffen ohne Waffen, war das nicht mal was Gutes? Wozu auf irgendwas verzichten, wo das doch gar nicht im eigenen, deutschen Interesse liegt? Druschba – Freundschaft!
Die Auflösung der Realität ist Kernziel russischer Propaganda. In dieser Hinsicht ist in der Tat „die Wahrheit“, wie die Journalistin Golineh Atai schreibt, „der Feind“. Ging es etwa im Kalten Krieg noch um den Kampf zwischen zwei politischen Systemen auf gemeinsamer, sagen wir: rational-aufklärerischer Grundlage, geht es heute darum, die Öffentlichkeit mit so viel Desinformation zu fluten, bis kein Mensch mehr durchblickt. Zielte russische Staatspropaganda einst in eine bestimmte Richtung, so zielt sie heute in mehrere, sich teils widersprechende Richtungen gleichzeitig. Das gewünschte Resultat ist, dass selbst gut informierte Beobachter:innen des Geschehens zu Protokoll geben, es sei „alles sehr komplex“. Und in dem daraus resultierenden Nebel führen selbst die dreisteten und offensichtlichsten Lügen des Putin-Regimes nicht dazu, dessen Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Vielmehr kann immer alles auch ganz anders sein. Genau wissen kann man es ja schließlich nicht. Oder doch?
Jedenfalls ist die Ukraine weit weg, besonders deren Osten. Da ist ja schon fast Russland, oder nicht? Vor-Ort-Sein ist jedenfalls schwer. Und „die Medien“ können viel erzählen. Der Mensch als „homo narrans“, das Geschichten erzählende Wesen. Ab einer bestimmten Gruppengröße kennt nicht mehr jeder jeden. Dann sind es gemeinsam geglaubte Geschichten, Mythen, Glaubenssätze, die uns verbinden. Zum Beispiel die, dass es sinnvoll ist, solidarisch zu sein. Schon aus Eigeninteresse. Es gibt auch die Geschichte, dass jeder sich um sich selbst kümmern soll. Diese Geschichte hat in der Regel nicht so viele Anhänger, weil sie ziemlich kontraintuitiv ist und auch der eigenen Lebenswirklichkeit meist widerspricht. Aber es gibt sie. Was nun die politische Urteilskraft angeht, überzeugt uns Deutsche zumeist eines, nämlich Bodenständigkeit. Nichts ist verwerflicher, als abgehoben rüberzukommen, am Ende noch „oberlehrerhaft“. Urlaub nur in Deutschland. Wein nur unter fünf Euro. Und bloß keine Fremdsprache passabel sprechen, da man ja immer nur in der Heimat, pardon: vor Ort, gelebt hat, was einen erst zum überzeugenden politischen Vertreter dieser Heimat macht. Von Hitler über Gauland und Maaßen bis Putin wird sich ja ständig über die heimatlosen „Globalisten“ echauffiert. Die, die „überall“ zu Hause sind, und „keine Heimat“ haben. Wie sollen die jemals „vor Ort“ sein und wissen, „wo der Schuh drückt“? Zu dieser Kritik hatte bereits der junge Klaus Mann geschrieben: „Ich fühlte mich der Nation nicht zugehörig, schon deshalb nicht, weil ich den Begriff des Nationalstaats überhaupt als überholt empfand und an die Notwendigkeit übernationalen Zusammenschlusses glaubte.“ In diesem Sinne hätten die „Repräsentanten dieses Nationalismus“ durchaus recht, wenn sie seinesgleichen als „entwurzelt“ bezeichneten: „Ich hatte keine Wurzeln, wollte keine haben, in dem Boden, den jene, charakteristischerweise, so gerne in Zusammenhang mit Blut brachten: dem Blute nämlich, mit dem sie ihren geliebten Boden tränken wollten.“
Ganz so arg ist es heute nun nicht mit dem „Blute“, aber die deutschen Konzernbosse können die „Globalismus“-Kritiker jedenfalls nicht gemeint haben, denn die kommen in großer Mehrzahl aus dem Inland. Zwar haben viele Auslandserfahrung gesammelt, aber für die großen Karriereschritte ging es immer wieder in die Heimat. Bodenständig, wie wir es lieben. Und weil wir das so lieben, haben wir Deutschen auch den Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt als großes Orakel gefeiert. Der lebte immerhin im Reihenhaus. Und log Zeit seines Lebens über sein zeitgenössisches Wissen von den Verbrechen der Nazis. Ganz bodenständig urteilte Schmidt auch über die Ukraine. Bei der Osteuropa-Expertin des Deutschlandfunks Sabine Adler kann man folgende Aussagen des Ex-Bundeskanzlers nachlesen: „Die Politik des Westens basiere auf einem großen Irrtum, nämlich dem, «dass es ein Volk der Ukrainer gäbe, eine nationale Identität». In Wahrheit gebe es die Krim, die Ost- und die Westukraine.“
Und der andere große Bodenständige der SPD, Egon Bahr, der konnte den ganzen Ärger nach 2014 überhaupt gar nicht verstehen: „Ich habe jetzt das Gefühl, als ob man im Grunde dem Putin übelnimmt, dass er kein Demokrat nach unserer Auffassung und nach unserer Machart ist.“ Und wohl aus diesem Grund ließ es sich Bahr dann auch nicht nehmen, im November 2014 an einer Konferenz des rechtsradikalen Magazins „Compact“ teilzunehmen, zusammen mit Putin-Fans, Rassisten und Verschwörungstheoretikern – und zwar als „Ehrengast“. Da war es wohl nicht weit her mit der politischen Urteilskraft.
Aber gut: Manche werden halt komisch zum Ende hin, oder waren es schon immer. „Den Dummheiten seiner Epoche entgeht kein Mensch ganz“ (Goethe) – weder „draußen im Land“, „vor Ort“, noch im „Raumschiff Berlin“ oder in irgendeinem „Elfenbeinturm“.
BILD CREDITS: Von Chris Schaer from Zofingen, Schweiz – Ringier 175 Jahre Jubiläum, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36962786