Es wird jeden Tag, den die furchtbaren Verbrechen Russlands an der Ukraine andauern, schwerer, den Erfolg russischer Propaganda hierzulande zu verstehen. Viel ist in der Vergangenheit geschrieben worden über den „Russland-Komplex der Deutschen“. Gerd Koenen, der 2005 eine wegweisende Monografie zum Thema vorgelegt hat, ist wohl etwas zu optimistisch, wenn er im letzten Osteuropa-Heft von einem „Ende“ dieses Komplexes spricht und Russland für „gründlich entzaubert“ hält.
Tagtäglich lässt sich – nicht zuletzt auf diesen Seiten hier – erleben, dass dem nicht so ist.
Dass russische Regierungen Meister der Desinformation sind, weiß jeder, der sich mit der Geschichte des Landes beschäftigt. Von den „Protokollen der Weisen von Zion“, einem Machwerk der zaristischen Geheimpolizei Ochrona, über die tausende von Seiten Untersuchungsberichte, mit denen nachgewiesen werden sollte, dass Katyn kein sowjetisches, sondern ein deutsches Verbrechen war, bis hin zu den viral verbreiteten „Beweisen“, dass MH17 auf keinen Fall von einer russischen Rakete abgeschossen worden sein konnte – wer sehen will, kann sehen.
Was jedoch heute noch viel schlimmer und wirkungsvoller ist, ist der Angriff auf die Realität selbst. Ging es im Kalten Krieg oftmals noch um den Kampf zwischen zwei „Systemen“, geht es heute darum, die Welt mit so viel Informationsschrott vollzublasen, bis kein Mensch mehr durchblickt.
Das alles ist Teil der notorischen Gerassimow-Doktrin zur hybriden Kriegsführung seit 2014, mit der man sich im Westen viel mehr auseinandersetzen sollte. Bezeichnenderweise ist der entsprechende Wikipedia-Artikel kürzlich deutlich entschärft worden. Es ist dort nur noch von einem Mythos die Rede …
Und hier kommen dieser Tage nun die wirkmächtigsten Instrumente der Desinformation zum Einsatz, die auch schon in der Corona-Krise nützliche Dienste erwiesen: Die Übernahme von ehemals progressiven Denkmustern und ihre effektive Verkehrung ins Gegenteil. Die Neuen Rechten haben dies teilweise bereits seit 1968 betrieben. Damals begannen junge Rechtsintellektuelle von den Aktionsformen der Neuen Linken zu lernen. Die allumfassende Kritik am Bestehenden, das permanente Hinterfragen hergebrachter Leitsätze entfaltete dann keine emanzipatorische, sondern eine realitätsauflösende, „post-faktische“ Wirkung. Begriffe wurden unentwegt und ganz bewusst sturmreif geschossen.
„Auch die andere Seite sehen“ – also auch die Nazi-Seite.
„Alles hinterfragen“ – also auch, ob 2+2=4 ist.
„Bei uns ist jeder willkommen“ – also auch Nazis.
„Meinungsfreiheit“ – also auch, ob es den Holocaust so wirklich gegeben hat.
„Kritisch sein“ – also selbst eindeutige Sachverhalte relativieren und sich dabei besonders schlau fühlen im Gegensatz zu den >> „Schlafschafen“.
„Sich umfassend informieren“ – also auch „im Internet“ auf abwegigen Seiten im Gegensatz zur >> „Mainstream-“ oder auch gleich >> „Lügenpresse“.
Eine aktuelle Einschätzung zum Krieg gegen die Ukraine liest sich dann so:
„Ich habe auch meine SICHT DER DINGE. Der Krieg gegen die Ukraine ist SEHR KOMPLEX. Es gibt hier KEINE EINFACHEN LÖSUNGEN ODER ANTWORTEN. Es hat nicht nur ein Akteur die HAUPTSCHULD. Zum Streiten gehören schließlich immer noch ZWEI. Man muss die Ursachen GANZHEITLICH betrachten und OBJEKTIV und NICHT MORALISCH. Und vor allem GEOPOLITISCH. DIE PRESSE berichtet ja auch nicht NEUTRAL. Uns wird auch EINE GEWISSE SICHT präsentiert. Insofern sehe ich das alles DIFFERENZIERTER als der Mainstream. Die Frage ist ja schon, WER PROFITIERT? NATO-Osterweiterung, bla bla bla … Minsk II, bla bla bla …
In Wirklichkeit ist der Krieg alles andere als Komplex, sondern geradezu erschreckend eindeutig. Etwas anderes zu behaupten, besonders viel „differenzieren“ zu wollen, mag teilweise schlau daherkommen, ist tatsächlich jedoch nur ein trübes Wiederkäuen russischer Propaganda.
Wer wirklich „kritisch“ auf die Vorgeschichte zu diesem Krieg schauen will, der beschäftige sich mit dem Scheitern der Appeasement-Politik der letzten Jahrzehnte; der lese Bücher von Koenen, Schloegel, Snyder, Applebaum, Plokhy, Davies, Makhotina, Urban; der befasse sich mit folgender „Erfolgs“-Bilanz der Politik des „Gesprächsfadens-nicht-abreissen-Lassen“:
Tschetschenien- und Georgien-Kriege, Giftanschläge in ganz Europa, Auftragsmorde im In- und Ausland, Wahleinmischungen im gesamten Westen, Trump, Brexit, Massaker in Syrien, Destabilisierung von Politik und gesellschaftlichem Klima durch Trollfabriken und massive Desinformationskampagnen, AfD, Salvini, Le Pen und Kickl, Einmarsch in den Donbas, gewaltsame Annexion der Krim, Abschuss von MH17, Zerstörung der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Friedensordnung, Cyber-Attacken auf zahlreiche NATO-Mitglieder, Zündeln auf dem Balkan, immer offener zur Schau getragene Repression Russland selbst und Massenmord in der Ukraine.
Hier hätte jemand, der sich einer „kritischen Sicht der Dinge“ befleißigen möchte, doch eigentlich genug Material, oder?