Die ewige deutsche Selbstbespiegelung geht mit einer enormen Ignoranz gegenüber den offenen historischen Wunden unserer osteuropäischen Nachbarn einher
Zugegeben. Das Jahr 1923. Das muss schon schlimm gewesen sein. Hyperinflation. Massenverarmung. Regierungskrisen. Gesellschaftliche Polarisierung. Vorboten dessen, was da noch kommen sollte ab 1933. Wobei: Für unpolitische „Volksdeutsche“ mit Ariernachweis waren die Verhältnisse dann ja gar nicht mal so schlecht. Immerhin lagen hier die Ursprünge des bundesrepublikanischen Sozialstaats. Kraft durch Freude. Ab in den Urlaub. Lob und Ehre der deutschen Mutter.
Der zum Nationalsozialismus abgedriftete Gottfried Benn erklärte dem empörten Klaus Mann 1933, „dass es dem deutschen Arbeiter heute besser geht als zuvor. Sie wissen, dass ich als Arzt mit vielen Kreisen, als Kassenarzt mit vielen Arbeitern in Berührung komme, auch mit früheren Kommunisten und Angehörigen der SPD, es kann gar nicht zweifelhaft sein, ich höre es von allen, dass es ihnen besser geht als zuvor.“
Richtig schlimm wurde es erst ab 1939 im Krieg. Am Ende waren es knapp 10% der deutschen Bevölkerung, des „Tätervolks“, die den Tod fanden – die Hälfte des Blutzolls, den etwa Polen gemessen an seiner damaligen Bevölkerungszahl zu entrichten hatte.
Trauma. Wir Deutschen und unsere Traumata. Wir paradieren sie vor uns her. Sind fast stolz drauf. „Sündenstolz“ (Hermann Lübbe) und aber auch „Opferstolz“ (Anetta Kahane). Holocaust und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten. „Zweierlei Untergang“ (Andreas Hillgruber). Wir wollen das doch mindestens in einem Atemzug nennen (dürfen). Das wird man ja wohl noch. „German Angst“ – ein Begriff, der international bekannt ist. Viel bilden wir uns auf diese Dinge ein. „Unsere“ Gewalterfahrung. „Unsere“ Kriegserfahrung“. „Unsere“ Lehren des Krieges. „Unsere“ Erinnerungspolitik. Niemand macht darüber bessere Filme mit Heino Ferch. Vollgesogen haben wir uns mit Geschichtssimulation. Mit Geschichtsbüchern, Geschichtsdokus, Geschichtspodcasts.
Aber wohin dann jetzt mit all dem Wissen? All der ererbten Erfahrung? Welche praktischen Anwendungen gäbe es dafür?
Umberto Eco schrieb dazu bereits 1995: „Es wäre so bequem für uns, wenn jemand auf die Bühne der Welt träte und erklärte: «Ich will ein zweites Auschwitz, ich will, dass die Schwarzhemden wieder über Italiens Plätze marschieren!“ Das Leben ist nicht so einfach. Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger auf jede seiner neuen Formen zu zeigen – jeden Tag, überall in der Welt.“
Die russischen Truppen, die im Zeichen des „Putinschen Hakenkreuzes Z“ (Karl Schlögel) jetzt die Ukraine vergewaltigen, kommen ganz und gar nicht „in den unschuldigsten Gewändern“ daher. Die Identifikationen des „Ur-Faschismus“ dürfte also nicht allzu schwerfallen. Und doch treibt unsere Geschichtsverrücktheit die seltsamsten Blüten. Eben erst: Gegner der Corona-Maßnahmen mit einem Judenstern am Revers. Jana aus Kassel vergleicht sich mit Anne Frank. Und jetzt: Trifft der russische Angriffskrieg in der Ukraine auf eine bereits sturmreif geschossene Diskurslandschaft.
Täter-Opfer-Umkehr allerorten und als Geschichtsexperten erklären wir jetzt mal den Ukrainer:innen, wie man sich im Angesicht des Krieges so verhält.
Die Art und Weise, in der der Soziologe Harald Welzer den ukrainischen Botschafter Melnyk vor einem Millionenpublikum regelrecht abkanzelte („Bleiben Sie mal beim Zuhören“), war in dieser Hinsicht ein Fanal, stand dieses Abkanzeln doch stellvertretend für zehntausendfachte Abkanzelungen dieser Art im ganzen Land. Dazu der Journalist Julian Hans: „Ein Nachfahre der Täter belehrt einen Nachfahren der Opfer und Vertreter einer Nation unter Bomben und stützt sich dabei AUF DIE WELTKRIEGSERFAHRUNG IN SEINER EIGENEN TÄTERFAMILIE.“
Und der sonst so kluge Alexander Kluge möchte der Ukraine die überlebensnotwenigen Waffenlieferungen verweigern, eben weil er als Kind die alliierte Bombardierung seiner Heimatstadt Halberstadt miterleben musste … um wem heute was zu ersparen?
Deutsche Traumata. Deutsche Ängste. Deutsche Bedenken.
Wer glauben wir eigentlich, wer wir sind?
Schauen wir auf Osteuropa, diese terra incognita des deutschen Erinnerns und Selbstvergewisserns. Vergessen wir einmal kurz Hyperinflation, Hamburger Sturmflut, Deutschen Herbst und belegte Turnhallen in der „Flüchtlingskrise“. Schauen wir auf Polen. Auf polnische Traumata.
Anfang des 20. Jahrhunderts. Polen als Staat nicht existent. Aufgeteilt. Negiert. Unterjocht und unterdrückt. Sprachverbote. Kulturverbote. Nach kurzer, hoffnungsvoller Renaissance dann 1939 der grausame Angriffskrieg (nicht „Überfall“!) des Deutschen Reiches. Das Ziel: Schaffung deutschen „Lebensraums“. „Entpolonisierung“. „Entjudung“. „Germanisierung“. Durch: Massenmord an der polnischen Intelligenz, Massenaussiedlung ins sogenannte Generalgouvernement, Massendeportation von Zwangsarbeitern.
Für das Generalgouvernement hatte Reichsführer SS Heinrich Himmer unter anderem folgende Pläne:
„Eine grundsätzliche Frage bei der Lösung all dieser Probleme ist die Schulfrage und damit die Sichtung und Siebung der Jugend. Für die nicht-deutsche Bevölkerung des Ostens darf es keine höhere Schule geben als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, dass es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein, und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich. Außer dieser Schule darf es im Osten überhaupt keine Schule geben. […] Die Bevölkerung des Generalgouvernements setzt sich dann zwangsläufig, nach einer konsequenten Durchführung dieser Maßnahmen, im Laufe der nächsten zehn Jahre aus einer verbleibenden minderwertigen Bevölkerung […] zusammen. Diese Bevölkerung wird als führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung stehen und Deutschland jährlich Wanderarbeiter und Arbeiter für besondere Arbeitsvorkommen (Straßen, Steinbrüche, Bauten) stellen.“
Stoff genug für das ein oder andere Trauma, oder?
Es würde zu weit führen, den gesamten Leidensweg des polnischen Volkes hier im Detail nachzuzeichnen. Oftmals umkreisen unsere Erinnerungen ja einzelne Begriffe wie „Hitler-Stalin-Pakt“, „Katyn“, „Warschauer Aufstand“. Überhaupt Aufstände. Immer wieder. Erfolglos. Gegen Nazis. Gegen Kommunisten. Und zwischendurch Unterdrückung. Eingliederung in den sowjetischen Gewaltbereich. Der Eiserne Vorhang geht runter. Vor und nicht hinter dem Land, das im Zweiten Weltkrieg zuerst angegriffen wurde und das die Alliierten doch überhaupt erst auf den Plan gerufen hatte. Wieder Aufstände. 1956. 1968. 1970. 1976. Dann Solidarnosc. Verhängung des Kriegsrechts.
Wer redet von polnischen Traumata. Wo ist die Polish Angst?
Und heute? Wie sich die Dinge gleichen! Die Ukraine. Ihr schiere Existenz wird durch den obersten Führer Putin negiert. Sie soll als Nation ausgelöscht werden. Vom gleichen „großen“ (vor allem aber: bösen) „Bruder“, der dem Land, der Kornkammer Europas, den Holodomor, die große Hungersnot der 30er Jahre mit Millionen von Toten angetan hat.
1932. Ein ukrainisches Trauma. Wo ist die Ukrainian Angst?
Wenn Putin als wirrer Hobbyhistoriker in seiner Rede vom 21. Februar 2022 erklärt, die Ukraine sei „für uns nicht einfach ein Nachbarland“, sondern ein „integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur, unseres geistigen Raums“ – welche Traumata mögen da bei den Ukrainer:innen aktiviert werden? Erstmal vielleicht keine. Womöglich haben die meisten gar keine Zeit für die Pflege ihres Seelenhaushalts, für endlose Selbstbespiegelungen, da sie mit dem schieren Überleben beschäftigt sind.
Aber vielleicht wird aus deutscher Sicht manch gefühlte „Überreaktion“ verständlicher: Auf die historisch sagenhaft ignorante Nord-Stream-Politik, auf den russischen Gas-Lobbyisten Gerhard Schröder und seine Netzwerke, auf die „Steinmeier-Formel“, auf Scholz-Telefonate mit Putin, auf verschleppte Waffenlieferungen, auf symbolische Gesten ohne praktischen Nutzen.
Doch bis eine solche Form der Empathie, bis die Fähigkeit zum Zulassen multiperspektivischer Sichtweisen, bis echtes Verständnis und Verstehen ohne Hochmut erreicht werden kann, scheint hierzulande immer noch zu gelten: Deutsche Traumata über alles.
Dabei muss doch jetzt endlich Schluss sein mit der nationalen Nabelschau! Keine Vergangenheitsbewältigung mehr ohne geistige Transferleistung ins Hier und Jetzt! Keine wohlfeilen Pauschaldistanzierung mehr von der Vergangenheit bei gleichzeitiger Blindheit für die Gegenwart! Die Lehren der Erinnerungspolitik müssen zu einer echten Ostpolitik für das 21. Jahrhundert werden; einer Ostpolitik, die Osteuropa im Fokus hat und nicht in erster Linie Russland.
Doch die derzeitige Debattenlage zeigt deutlich: Ein großer Teil der Deutschen hat entweder gar keine oder die falschen Schlüsse aus der eigenen Geschichte gezogen.
Und nun wieder zum großen TV-Vierteiler mit Heino Ferch.
PS: Das Buch von Mark Jones, das diesen erinnerungspolitischen Rant ausgelöst hat und das stellvertretend für viele seiner Art steht, habe ich noch nicht gelesen. Es ist aber sicher sehr gut.
Lieber Karl Adam,
dieses und jenes ist recht bedenkenswert.
Was die Traumata betrifft, sind es keineswegs nur deutsche, sondern eben auch polnische, russische, ukrainische, jüdische und viele andere.
Bundeskanzler Scholz hat mit Macron, Draghi und Johannes auf der Reise nach Kiew ein europäisches Zeichen gesetzt.
Friedliche Grüße
Bernd Arnold