Die Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta, die das Ende des klassischen Griechenland einläutete und deren Abläufe uns heute, fast 2.500 Jahre später, so seltsam vertraut vorkommen, wird gemeinhin als „Peloponnesischer Krieg“ bezeichnet. Da gab es Bündniskonstellationen, Beistandspakte und Stellvertreterkriege, da gab es Handelsembargos, Machtdemonstrationen und aufrührerische Demagogen, es gab Wettrüsten, und einen naiven Glauben auf beiden Seiten, den schnellen Sieg davontragen zu können. Athen und sein Attischer Seebund standen für die Demokratie und konnte zudem mit dem Prestige des letztendlichen Sieges in den Perserkriegen (500 – 479 v. Chr.) aufwarten. Sparta und sein Peloponnesischer Bund standen für die Monarchie, aus Sicht Athens aber für die Tyrannis. Während Athens politisches System im 5. Jahrhundert zunehmend zugunsten der unteren Schichten verändert wurde, mussten die spartanischen Machthaber stets Angst vor einem Aufstand ihrer zahlreichen Sklaven, den Heloten, haben.

Doch allein die Bezeichnung „Peloponnesischer Krieg“ zeigt die athenische Perspektive, die in der Geschichtsschreibung vornehmlich eingenommen wurde. Der Stratege und Historiker Thukydides, unsere Haupt- und oftmals einzige Quelle für die damaligen Geschehnisse, hatte in seinem großen (Zeit-)Geschichtswerk freilich noch vom „Krieg der Peloponnesier und der Athener, wie sie ihn gegeneinander auskämpften“ gesprochen. Spätestens im Späthellenismus ist die Bezeichnung „Peloponnesischer Krieg“ dann sicher verbürgt. Doch es geht hier nicht nur um die bloße Bezeichnung des Rahmengeschehens, es geht auch um die einzelnen Abschnitte innerhalb des Ringens um die Hegemonie in der griechischen Welt. Die erste Phase von 431 bis 421 v. u. Z. wurde – ebenfalls aus stadtathenischer Sicht – als „Archidamischer Krieg“ bezeichnet, nach dem gleichnamigen spartanischen König, der jährlich die Invasion der Peloponnesier in Attika und die Verwüstung von Umland und Ernte befehligte, während sich die Athener in der Stadt und hinter ihren „langen Mauern“ verbarrikadierten und ihre Überlegenheit zu See mit Landungsoperationen in der Peloponnes ausspielten. Den für Athen vorteilhaften Nikias-Frieden verspielte es durch die vornehmlich von dem Strategen Alkibiades angezettelte „Sizilische Katastrophe“ beinahe vollkommen. Der abschließende „Dekeleische Krieg“ (414/3 bis 404 v. u. Z.) wurde dann nach der Festung Dekeleia, zwanzig Kilometer nördlich von Athen, benannt, die spartanische Truppen mit dem Zweck einer permanenten Belagerung der Hauptstadt des Attischen Seebunds besetzt hatten. Die großen militärischen Auseinandersetzungen fanden jedoch zur See am Hellespont und an der ionischen Küste statt, wo Sparta, ausgerüstet mit massiven persischen Subsidien, schließlich den Sieg über den Seebund davontragen konnte. Mit der anschließenden Belagerung Athens und dessen Kapitulation endet die klassische Erzählung des Peloponnesischen Krieges. Thukidydes‘ Darstellung endet 411, mitten im Dekeleischen Krieg. Fortgesetzt wurde sie – wenn auch weitaus spärlicher – von dem Sokrates-Schüler Xenophon sowie einem weiteren anonymen Autor, auf den sich römische Historiker der Kaiserzeit gestützt haben. Deren gemeinsames Fazit: Die Demokratie hatte verloren und sich augenscheinlich als die unterlegene Staatsform herausgestellt.

Diese Sichtweise wurde über die Jahrhunderte perpetuiert und verfestigt, was vor allem auf die hohe Qualität der Schrift des Thukydides zurückgeht. Niemand vor ihm und wenige nach ihm haben komplexe politische, strategische und militärische Zusammenhänge auf derart hohem analytischem Niveau präsentiert und dabei multiperspektivische Sichten zugelassen. Den Zeitgenossen wäre es dennoch nicht in den Sinn gekommen, die Jahre zwischen 431 und 404 als historische Einheit zu betrachten. Davor und danach gab es nämlich jeweils mehr Kontinuität als Zäsur. Der Gegensatz zwischen Athen und Sparta war schon während der Perserkriege manifest geworden und stand spätestens nach dem griechischen Sieg offen im Raum. Man kann die Situation mit derjenigen nach 1945 vergleichen, als die USA und die Sowjetunion den gemeinsamen Gegner niedergerungen hatten, der gesellschafts- und geopolitische Gegensatz zwischen den durch sie angeführten Bündnissystemen jedoch schnell offenkundig wurde. Lediglich wann und wo dieser Gegensatz offen zum Ausbruch kommt, war dann jeweils die Frage.

Im klassischen Griechenland geschah dies spätestens durch den Übertritt der Polis Megara zu Athen. Der dadurch ausgelöste Krieg zwischen Attischem Seebund und Peloponnesischem Bund, der auch „Erster Peloponnesischer Krieg“ genannt wird, dauerte von 457-446/5 v. u. Z. und endete mit einem auf dreißig Jahre geschlossenen Friedensvertrag. Dieser Frieden führte jedoch keineswegs zu einer Stabilisierung der Lage. Viele kleinere Konflikte – analog zum Kalten Krieg könnte von „Stellvertreterkriegen“ gesprochen werden – führten dazu, dass die spartanische Angst vor einer athenischen Hegemonie in der griechischen Welt – nach Thukydides der „wahrste“ Grund für den Peloponnesischen Krieg – beständig neue Nahrung bekam. Zunächst war da der Konflikt zwischen Athen und Korinth. Dieser äußerte sich unter anderem in einer Auseinandersetzung um den Status der Insel Korkyra (heute: Korfu), also in den sogenannten „Korkyräischen Händeln“, als auch um denjenigen der korinthischen Ausgründung Poteidaia auf der Halbinsel Chalkidike. In beiden Fällen schienen die athenischen Expansionsbestrebungen trotz Friedensvertrags mit Sparta ungebrochen. Das Fass zum Überlaufen brachte dann für Sparta das sogenannte „Megarische Psephisma“ (Volksbeschluss), mit dem Athen seine ungeliebte, mit den Peloponnesiern verbündete Nachbarpolis effektiv vom Handel mit Märkten und Häfen des Seebundes ausschloss. Mit dem Jahr 431 und dem Ausbruch des Archidamischen Krieges begann eine neue Phase im Ringen um die Hegemonie in der griechischen Welt, sie war jedoch in vielem eine Fortsetzung des „Ersten Peloponnesischen Krieges“ und des allgemeinen athenisch-spartanischen Gegensatzes seit den Perserkriegen.

Noch willkürlicher scheint es, im Jahr 404 eine Zäsur zu setzen, also am Ende der klassischen Erzählung vom Peloponnesischen Krieg. Gewiss: Das Seebundreich wurde liquidiert, alle Besitzungen außerhalb Attikas geräumt, die Langen Mauern wurden niedergerissen, die restlichen Kriegsschiffe ausgeliefert, alle Verbannten heimgeführt und ein „Freundschaftsvertrag“ mit Sparta unterzeichnet. Doch Athen wurde eben nicht zerstört, wie es Theben und Korinth gefordert hatten. Sparta, das sich im Anschluss im Krieg gegen Persien befand, war an einem Machtvakuum in Attika nicht gelegen. Die mit Hilfe des spartanischen Feldherren Lysander eingesetzte „Herrschaft der Dreißig“ hatte in Athen aber gerade mal acht Monate – von August 404 bis März 403 – Bestand. Dann wurde sie überworfen und die demokratische Staatsform schon wieder restituiert – keine wirklich lange Niederlage für die Volksherrschaft.

Und keine zehn Jahre nach Ende des Peloponnesischen Krieges standen sich die beiden Kontrahenten erneut im Feld gegenüber: Von 395-387 tobte der sogenannte Korinthische Krieg mit Argos, Athen, Korinth und Theben auf der einen und Sparta auf der anderen Seite. Erst der „Königsfrieden“ 387/386, eigentlich ein persisches Diktat, brachte etwas Stabilität. In der Folge und angesichts der nunmehr jahrzehntelangen Gewalt, gewann die Idee eines „allgemeinen Friedens“ (Koine Eirene) in der griechischen Welt zunehmend an politischer Wirkung. Athen gelang jedoch sogar nochmal die Gründung eines zweiten Attischen Seebunds (377), wobei es den Zwangscharakter des ersten Seebunds vergessen zu machen trachtete und allen Mitgliedern volle Autonomie zusicherte. De facto handelte es sich jedoch erneut um ein Mittel zu Brechung der spartanischen Vorherrschaft. Letzteres hatte aufgrund seiner Gesellschaftsstruktur, die sich aus wenigen Freien und einem Großteil von Unfreien in verschiedenen Graden zusammensetze, nicht das hegemoniale Potential, das Athen mit seiner Vielzahl freier Bürger einst gehabt hatte. 375 kam es nochmal zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Seebund und Sparta, als Letzteres in den Seeschlachten von Paros und Naxos besiegt werden konnte. Nach einem Friedenskongress und erneuten Spannungen um 371 war es dann das Theben des Epameinondas, das der Großmachtstellung Spartas endgültig ein Ende bereitete. Der „allgemeine Friede“ kam schließlich von unerwarteter Seite, nämlich in Form einer Einigung Griechenlands im Zeichen der makedonischen Hegemonie. Das Zeitalter des Hellenismus sollte sich in dieser Hinsicht als weitaus stabiler erweisen als die Klassik.

Zusammenfassend lässt sich also statt dem eng gefassten dreißigjährigen Peloponnesischen Krieg von über achtzig Jahren, mit zwischenzeitlichen Friedensphasen durchsetzter Gewaltgeschichte zwischen Athen und Sparta sprechen. „Griechische Weltkriege“ wurde das in der neueren Forschung auch genannt. Dazu der Althistoriker Bruno Bleckmann: „Weil im klassischen Griechenland kriegerische Auseinandersetzungen regelmäßig wiederkehren, ist jede Zusammenfassung von Einzelkriegen zu einem Großkonflikt Ermessenssache.“

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