Warum vermag die römische Kaisergeschichte heute noch zu faszinieren? Welche Lehren und Schlüsse lassen sich für die heutige Zeit aus ihr ziehen? Zunächst: Niemand, dem an überstaatlichen Zusammenschlüssen oder an großräumig organisierten Rechtsgarantien gelegen ist, wird an Rom vorbeikommen. Sodann: Die Beschäftigung mit dem Imperium, insbesondere mit dessen Niedergang, sagt immer auch viel über die zeitgenössischen Diskurse aus, in denen die jeweiligen Geschichtsdeuter verhaftet sind. Niemand weiß das besser als der Berliner Althistoriker Alexander Demandt, der in seinem Standardwerk „Der Fall Roms“ (zuerst 1984) etliche Urteile der Nachwelt dokumentiert hat. Was er hier fand, liest sich erstaunlich vertraut: Dekadenz, Migration, Elitenversagen – kleinkalibriger wurde im Laufe der Jahrhunderte selten argumentiert. Auch Demandt selbst nimmt Parallelisierungen vor, wie die Kontroverse um einen Essay aus seiner Feder zeigt, den die Konrad-Adenauer-Stiftung Ende 2015 wegen allzu deutlicher Parallelisierung von Völkerwanderung und Flüchtlingskrise abgelehnt hatte, und der dann in der F.A.Z. veröffentlicht wurde.

Schließlich: Das römische Kaiserreich war ein Provisorium; allerdings eines, welches ziemlich genau 500 Jahre, vom Machtantritt des Augustus 27 v. Chr. bis zur Absetzung des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus im Jahre 476, Bestand hatte. Ein Provisorium war es deshalb, weil die Republik am Ende des langen Bürgerkriegs, der mit der Ermordung Julius Cäsars im Jahre 44 v. Chr. in seine letzte Phase gegangen war, niemals offiziell abgeschafft wurde. Nach wie vor gab es also die alte res publica, nach wie vor wurden jährlich zwei Konsuln gewählt, nach wie vor war der Senat de jure das politische Machtzentrum Roms. De facto lag die Macht allerdings beim Princeps, dem „Ersten Bürger“ Roms. Das deutsche Wort „Kaiser“, welches sich von „Cäsar“ ableitet, entstand erst im Hochmittelalter.

Eingedenk der Tatsache, dass staatspolitische „Provisorien“ 500 Jahre bestehen können – ähnliches ließe sich sogar für die 1.000 Jahre Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation behaupten – stellt sich die oftmals drängend gestellte Frage nach der Finalität der Europäischen Union womöglich mit etwas mehr Gelassenheit, als im tagespolitischen Diskurs üblich. Immerhin ist diese gerade mal knapp siebzig Jahre alt. Ein solches Aushalten von Spannungsverhältnissen, der Verzicht auf eindeutige Festlegungen, ist auch eines der Grundmotive der großen Marc-Aurel-Biografie, die Demandt jetzt vorlegt. Schon das Vorwort informiert: Nicht alle Machtfragen konnte er lösen, doch „manche auch ungelöst ertragen“.

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Die Ausgangslage für eine Biografie des Kaisers ist günstig: Anders als bei vielen anderen Herrschern liegen neben zeitgenössischen und späteren Quellen auch umfangreiche Zeugnisse des Protagonisten selbst vor, dessen „Selbstbetrachtungen“ heute noch viel gelesen werden. Lebensbeschreibungen gibt es also bereits einige und die römische Kaisergeschichte hat seit einiger Zeit wieder Konjunktur. Daran änderte auch die berühmt-berüchtigten Aussage des Doyens der deutschen Altertumswissenschaft, Theodor Mommsen (1817-1903), nichts, der einst bedauerte, „dass es sowohl in alter wie in neuer Zeit viele Historiker gegeben hat, welche es als ihre wissenschaftliche Aufgabe erblickten, sich wie Schmeißfliegen auf derartig unsaubere Stoffe zu setzen“.

Dennoch wird nicht so richtig klar, warum Demandt dieses Buch geschrieben hat. Das betont bescheidene Vorwort wartet mit keinerlei Neubewertungen, keinerlei neuen Quellenfunden, keinerlei Aktualitätsbezug auf – abgesehen von der Widmung an Helmut Schmidt, der bekanntlich ein großer Aurel-Fan war. Neues gäbe es eh kaum mehr zu entdecken, so der erstaunliche Befund des Autors. Ihm ginge es lediglich darum, das Bekannte säuberlich und auf dem letzten Stand aneinanderzureihen. Dabei werden auch sprachlich keine Girlanden gestrickt. Betont sachlich, oftmals geradezu stakkatoartig, werden die Fakten im Rhythmus „Ein Satz, eine Fußnote“ referiert. Mag der Rezensent der F.A.Z. hierin auch eine „unserer heutigen geschichtlichen Situation angemessene“ Ausdrucksweise erkennen, die „schlicht und schmucklos“ daherkommt – Lesefreude kommt so bei diesem doch eigentlich faszinierenden Stoff kaum auf.

Marc Aurels Herrschaftszeit (161-180) bildet den Abschluss der Periode der „guten“ Kaiser; das Ende eines goldenen Zeitalters, wie Edward Gibbon (1737-1794) in Anlehnung an Cassius Dio befand. Nach Nerva, Trajan, Hadrian und Antoninus Pius kam es ausgerechnet dem philosophisch veranlagten Marc Aurel zu, das Reich gegen die einfallenden Germanen verteidigen zu müssen. Gewiss, und Demandt betont das zu Recht, jeder andere Kaiser hätte genauso gegen Markomannen und Parther kämpfen müssen. Doch dass es Marcus Aurelius Antoninus Augustus, so der volle Name, entgegen seiner Natur gelang, die Grenzen des Reiches zu stabilisieren, darin liegt seine eigentliche Leistung. So urteilte bereits der große Friedrich, selbst ein Philosoph auf dem Thron, der sich ganz in der Tradition des Princeps verortete.

Insbesondere aufgrund des Manuskripts, das nach dem Tod des Kaisers im Frühjahr 180 in seinen Habseligkeiten gefunden, und das erstmals 1599 gedruckt wurde, erlangte er Unsterblichkeit. Dass die „Selbstbetrachtungen“ (Meditationes) heute noch gelesen werden, liegt daran, so Demandt, dass „man sich immer wieder in der gleichen Lage entdeckt, in der sich Marcus findet und zurechtfinden muss.“ Sein Unglück war, dass er mit Commodus einen Sohn und Nachfolger fand, der sämtliche Tugenden, die dem Kaiser so wichtig gewesen waren, vermissen ließ. Der Monumentarfilm von 1964, mit Sir Alec Guinness in der Rolle des Marc Aurel, hieß nicht umsonst „Der Untergang des römischen Reiches“. Dieser sollte allerdings noch 300 Jahre dauern.

Trotz der sprachlichen Kühle schafft Demandt eine umfassende Synthese der vorhandenen literarischen, epigraphischen, numismatischen und archäologischen Zeugnisse und verhindert, wogegen Marc Aurel einst angeschrieben hatte: „Alles vergeht und wird bald zum Märchen und sinkt rasch in völlige Vergessenheit.“

3 Kommentare zu „Alexander Demandt: Marc Aurel. Der Kaiser und seine Zeit (Rezension)

  1. Im Osten hat das Römische Reich sogar noch knappe 1.000 Jahre länger gehalten, wenn auch in etwas angepasster Form. Irgendwie fällt Ostrom/Byzanz immer ein bisschen unter den Tisch 😉

    Sehr schöne Rezension!

    1. Das stimmt. Ich wollte in der Kürze nicht zu haarspalterisch sein. Chris Wickham schlägt in „Das Mittelalter“ sogar als endgültiges Untergangsjahr 1922 vor, da das Osmanische Reich so viele oströmische Strukturen übernommen habe!

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