Der Schauplatz: Das antike Alexandrien
Alexandria – Metrople der antiken Welt; bedeutendes Zentrum des Hellenismus; Regierungssitz der ptolemäischen Könige Ägyptens; Schmelztiegel griechischer, jüdischer, buddhistischer und christlicher Philosophie und Kultur; Standort des Leuchtturms von Pharos, des jüngsten der Sieben Weltwunder der Antike; Sitz des großen Musentempels Museion und der angeschlossenen Großen Bibliothek, der umfassendsten Büchersammlung der Alten Welt. Hier kamen die Gelehrten der Zeit zusammen, um Philosophie, Naturwissenschaften und Philologie zu betreiben. Hier versammeltem die ptolemäischen Könige ab 250 v. u. Z. siebzig Theologen und Übersetzer, um die hebräisch-aramäische Bibel ins Griechische zu übersetzen. Das Resultat, die Septuaginta, gilt als Gründungsdokument des hellenistischen Judentums.
Nach der Gründung durch Alexander den Großen im Jahre 331. v. u. Z. hatte sich Alexandria schnell zum Handels- und Wissenschaftszentrum gemausert und genoss bereits vor dem Aufstieg Roms einen legendären Ruf. Noch der spätantike Historiker Ammianus Marcellinus nannte sie „die Krone aller Städte“. Der Niedergang kam circa ab dem 2. Jahrhundert, als das vormals weitgehend tolerante Zusammenleben der Religionen immer konfliktträchtiger wurde. Unter Kaiser Trajan (98-117) kam es zu einem jüdischen Aufstand, der mit der weitgehenden Zerstörung der Stadt einherging. Sein Nachfolger Hadrian (117-13) ließ sie nur zu drei Fünfteln wieder aufbauen. Der severische Kaiser Caracalla (211-217) stellte zur Finanzierung seiner römischen Prachtthermen die staatliche Finanzierung für das Museion ein, wodurch die vormals äußert produktive „Alexandrinische Schule“ eines Großteils ihrer Schaffenskraft beraubt wurde. Im dritten Jahrhundert kam es auch immer wieder zu Christenverfolgungen, so etwa unter den Kaisern Decius (249-251) und Valerian (253-260).
Mit dem Rückgang der Bildung kam es auch, wie so oft, zu einer Zunahme von Intoleranz und Gewalt. Nach den Verfolgungen der Prinzipatszeit und der Taufe Konstantins des Großen (306-337) wurde das Christentum 380 bzw. 392 zur Staatsreligion im Römischen Imperium – und nun seinerseits zum Verfolger. Schnell wurden die Überreste anderer – nun „heidnisch“ oder „pagan“ genannter – Religionen mit unerbittlicher Härte beseitigt und verfolgt. Dabei kam es auch zu Konflikten zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen, zwischen Christen und Juden und auch innerhalb der alten polytheistischen Kulte. Neben der Zerstörung „heidnischer“ Heiligtümer, Tempel und Opferstätten kam es aber immer wieder auch zu Versuchen des Ausgleichs oder der Annäherung. Vertreter des „paganen“ Unterrichtsbetriebs lehrten einen neoplatonischen Synkretismus, der auch für die misstrauischen Augen des christlichen Patriarchen von Alexandria gerade noch erträglich war. Auf der anderen Seite waren viele Bischöfe geschult im Aristotelismus oder der Stoa. Den lustbetonten Epikureismus lehnten hingegen alle gemeinsam ab.
Trotz dieser Bemühungen war die Stimmung zu Beginn des 5. Jahrhunderts äußerst aufgeheizt. Der römische Statthalter, der Präfekt Orestes, musste seine örtliche Befehlsgewalt wiederholt gegenüber dem Patriarchen Kyrill (412-444) durchsetzen, der sich auf eine eigene Miliz stützte und zudem auf hunderte von gewaltbereiten Mönchen aus der Wüste zählen konnte. Weltliche und geistliche Macht konkurrierten offen um die Vorherrschaft. In diese Zeit fällt ein Verbrechen, welches zum Sinnbild für die gewaltsame Unterdrückung der Frau geworden ist: Der Mord an der Mathematikerin, Astronomin und Philosophin Hypatia.
Spärliche Quellenlage: Herkunft und Werdegang
Über Leben und Werk der Gelehrten liegen leider nur äußerst spärliche, zudem meist verleumderische Quellen vor. Keine einzige geschriebene Zeile hat sich von ihr erhalten. Der ägyptische Bischof Johannes von Nikiu schrieb im 7. Jahrhundert eine alexandrinische Chronik, in der er die Ermordung der Hypatia ausdrücklich guthieß; der Neuplatoniker Damaskios schrieb zwischen 517-526 an einer Philosophiegeschichte, schien von Hypatias Lehren jedoch eher wenig gehalten zu haben. Sein Text lässt eine gewisse Herablassung erkennen; in der Kirchengeschichte des Sokrates Scholastikos, eines jüngeren Zeitgenossen der Hypatia, wird die Ermordung als unchristlich verurteilt; erhalten haben sich außerdem sieben Briefe des Neuplatonikers Synesios von Kyrene, eines Schülers und Freundes der Hypatia; in der Suda, einer byzantinischen Chronik aus dem 10. Jahrhundert, findet sich auch ein Artikel über Hypatia, der sich auf die Schriften des Damaskios bezieht und wohl noch eine weitere, freilich ziemlich ausschmückende Quelle, zur Grundlage hat. Aus diesen Fragmenten lässt sich nur ein äußerst lückenhaftes Lebensbild extrahieren.
Hypatias Vater war der Astronom und Mathematiker Theon von Alexandria, der letzte namentlich bekannte Gelehrte des Museions, das nach den Maßnahmen Caracallas einen stetigen Niedergang erfahren hatte. Die Mutter ist unbekannt. Als Geburtsjahr wurde das Jahr 355 vorgeschlagen, aber auch nur, weil der oströmische Chronist Johannes Malalas (490-570) später berichtet hat, Hypatia sei bei ihrer Ermordung im Jahre 415 bereits eine „alte Frau“ gewesen, wofür etwa sechzig vermutet wurde. Allem Anschein nach blieb Hypatia ihr ganzes Leben lang in Alexandria. Die mathematische und astronomische Ausbildung erhielt sie vom Vater, dem sie auch später bei der Arbeit zur Hand ging. Wer ihr Philosophielehrer war, ist unbekannt. Wahrscheinlich ist, dass sie sich, dem Trend der Zeit entsprechend, eines kynischen Neoplatonismus befleißigte. Dafür spricht, dass sie einen Philosophenmantel – ein Erkennungsmerkmal der Kyniker – getragen hat. So berichtet zumindest Damaskios. Skeptizismus und Bedürfnislosigkeit waren die wichtigsten Insignien des Kynismus. Dieser bediente sich auch oft Schockmomenten, um Erkenntnisse herbeizuführen. Überliefert ist eine Anekdote aus der Suda, wonach Hypatia einem in sie verliebten Schüler ihr Menstruationsblut als Zeichen für die Hinfälligkeit alles Körperlichen und die Unsinnigkeit der Liebe gezeigt habe.
Hypatia unterrichtete öffentlich und dozierte textsicher über Platon und Aristoteles, sowie, dem Geist des Synkretismus entsprechend, über alle bedeutenden Philosophen. Das führte zu einiger Skepsis bei Kollegen, die meinten, die Philosophie sollte nur von „Kennern“ betrieben werden, die auch damit umgehen können; keineswegs aber vom einfachen Volk gehört werden. Ihr Stil war wohl durch eine rhetorische Begabung, durch große Ernsthaftigkeit und gedankliche Umsicht geprägt. Hypatia gehörte, was die innerstädtische Lagerbildung angeht, ins Umfeld des römischen Stadtpräfekten Orestes. Privat blieb sie unverheiratet. Gleichwohl war sie von „außergewöhnlicher Schönheit“ – berichtet zumindest Damaskios. Dass sie schließlich ins Kreuzfeuer der virulenten Religionskämpfe geraten sollte, war nicht unbedingt absehbar, hatte sie doch mit dem unmittelbaren Anlass gar nichts zu tun. Deshalb ist es nötig, sich die Vorgeschichte zu gegenwärtigen.
Machtkämpfe
Die religiösen Auseinandersetzungen seit dem 4. Jahrhundert vermischten sich mit politischen Motiven und wurden auch durch persönliche Feindschaften geprägt. Der syrische Philosoph Iamblichos von Chalkis hatte dem Neuplatonismus die Theurgie hinzugefügt, eine Art kultischen Handelns, mit dem die Gläubigen Kontakt zu den Göttern aufnehmen konnten. Diese Praktiken galten radikalen Christen als Zauberei, Götzenkult und Beschwörung teuflischer Dämonen. Ein Ausgleich schien kaum mehr möglich, insbesondere nachdem 391 das Serapeum von Alexandria, das berühmteste Serapeum der Antike, zerstört worden war. Den Mob christlicher Zeloten aufgehetzt hatte Kyrills Vorgänger im Amt des Patriarchen, sein Onkel Theophilus. Er wusste sich dabei durchaus im Einklang mit den Interessen Kaiser Theodosios I., der das Christentum zur alleinigen Staatsreligion erhoben hatte.
War solcherart das Verhältnis zwischen der christlichen Führung und den verbliebenen Anhängern der alten Religionen nachhaltig zerstört, kam bei Kyrill nun auch der Hass gegen Juden dazu. Es kam zu blutigen Scharmützeln auf den Straßen, im Theater, vor Kirchen und vor Synagogen. Es wurden Steine geworfen, Geschäfte geplündert und Häuser ausgeraubt. Als nächste Eskalationsstufe rief Kyrill aus der Wüste seine fünfhundert Mönche und Einsiedler in die Stadt. Er selbst hatte einst als Eremit unter ihnen gelebt. Mit diesem Rückhalt forderte er nun nichts weniger als die Vertreibung der jüdischen Gemeinde aus der Stadt. Orestes, der oströmische Stadtpräfekt, selbst gemäßigter Christ, wies diese Forderung zurück und stieß damit auf Zustimmung bei der „heidnischen“ geistigen Elite in der Stadt. Deren angesehenste Vertreterin war Hypatia. Ihre Autorität war so groß, dass Philosophen ihr eigene Schriften schickten und ängstlich auf ihre Zustimmung hofften. So schreib etwa der bereits genannte Synesios von Kyrene:
„Wenn du zustimmst, dass ich mein Buch veröffentlichen soll, dann werde ich es Rednern und Philosophen gemeinsam widmen. (Wenn andererseits) es dir nicht wert erscheint, wird sich dichte und tiefe Dunkelheit darüber legen, und die Menschheit wird nie mehr etwas von ihm hören.“
Den öffentlichen Rang der Hypatia zeigt auch diese Stelle bei Sokrates Scholastikos, der schrieb: „So selbstbewusst war sie und von so angenehmer Art, die der Verfeinerung und Kultiviertheit ihres Geistes entsprang, dass sie in der Öffentlichkeit häufig in Begleitung der Magistrate erschien.“
Die Nähe zur weltlichen Macht sollte ihr schließlich zum Verhängnis werden: Fanatisierte Christen warfen dem Präfekt Orestes aufgrund dessen Weigerung, die jüdische Gemeinde auszuweisen, vor, ein „Heide“ zu sein und die Feinde des Christentums zu schützen. Als er in der Stadt unterwegs war, geriet er in eine aufgebrachte Menge, aus der heraus ihm ein Mönch namens Ammonios mit einem Steinwurf am Kopf verletzte. Nachdem seine Begleiter die Flucht ergriffen hatten, konnte Orestes nur durch herbeieilende Bürger gerettet werden. Ammonios starb später in Gefangenschaft unter Folter, was wiederum Kyrill zum Anlass nahm, ihm posthum den Beinamen „der Bewundernswerte“ zu geben und den Mönch zum Märtyrer zu erklären.
Zur Zeit der Angriffe gegen die Kultstätten der „Heiden“ hielten Hypatia und ihre Anhänger sich noch bedeckt. Als aber der Hass auch auf die Juden ausgriff, mochten sie erkannt haben, dass der Brand der Fanatismus nicht von selbst gelöscht werden würde. Ihr öffentliches Begrüßen der Weigerung des Orestes, die Juden aus der Stadt zu werfen, wurde zum Anlass genommen, allerhand bösartige Gerüchte zu streuen: Die Beschäftigung der Frau mit Astronomie, Mathematik und Philosophie konnte nur bedeuten, dass sie eine Hexe sei, die sich der schwarzen Magie hingab. Sie allein war es, die einer Aussöhnung zwischen weltlicher und geistlicher Macht im Wege stand. Im März 415 (oder 416) schritt der Mob, aufgestachelt von einem gewissen Petros, eines Gefolgsmanns des Kyrill, zur Tat.
Ermordung
Vor ihrem Haus wurde die heimkehrende Hypatia aus dem Wagen gezerrt und zu einer Kirche geschleift, die vormals ein dem Kaiser gewidmeter Tempel gewesen war. Dort riss man der Philosophin die Kleider vom Leib und ermordete sie, wie es in den Quellen heißt, „mit Scherben“ (griechisch ostraka). Doch damit nicht genug: Der fanatisierte Pöbel riss den Leichnam in Stücke, schleppte ihn vor die Stadt und verbrannte ihn.
Mit dem Mord an Hypatia endete nicht nur das Leben einer außergewöhnlichen Frau, er markierte auch den Niedergang des geistigen Lebens in Alexandria und den Anbeginn des finsteren Mittelalters. Kirchliche Chronisten hatten ihre liebe Not, diese ganz und gar verabscheuungswürdige Tat im Nachhinein irgendwie zu rechtfertigen. Es gelang ihnen trotzdem. So behauptete Johannes von Nikiu im 7. Jahrhundert, Hypatia habe den Präfekten und die Stadtbevölkerung mittels satanischer Zauberei verführt. Unter ihrem Einfluss habe der Präfekt nicht mehr am Gottesdienst teilgenommen. Petros, den unmittelbaren Anstifter des Mordes, beschreibt Johannes als vorbildlichen Christen. Ob Kyrill direkt verantwortlich für den Mord war, ob überhaupt eine Tötungsabsicht vorgelegen habe, oder ob der Mob lediglich außer Kontrolle geraten war, wurde im Laufe der Jahrhunderte aus allen möglichen Blickwinkeln diskutiert. Aufgrund der ungünstigen Quellenlage werden sich diese Fragen niemals endgültig beantworten lassen.
Für Orestes bedeute der Mord seiner Schutzbefohlenen einen schweren Schlag und einen entscheidenden Autoritätsverlust, da er weder Hypatia hatte schützen können, noch ihre Mörder dingfest machen konnte. Folgenlos wurde Anklage erhoben. Nach zahlreichen Interventionen beim Kaiser konnte zwar kurzfristig eine gewisse Restauration der weltlichen Macht erreicht werden, doch bereits 418 konnte Kyrill die volle Befehlsgewalt über seine Miliz zurückgewinnen. Er sollte noch bis 444 im Amt bleiben und gilt bis heute als Heiliger, Kirchenvater und Kirchenlehrer.
Nachleben
Es konnte bei der Brutalität und Ungerechtigkeit dieses Mordes nicht ausbleiben, dass über Jahrhunderte immer wieder engagiert über ihn gestritten wurde. Aufklärer wie Voltaire (1694-1778) prangerten den mörderischen Fanatismus an, der zur Ermordung der Hypatia geführt habe. Dem Historiker Edward Gibbon (1737-1794) galt sie als Beleg für den durch das Christentum bedingten Zivilisationsverfall. Es gab freilich auch Gegenstimmen: Der Anglikaner Thomas Lewis publizierte 1721 ein Pamphlet, in dem er Kyrill von jeder Schuld freisprach. So hielten es auch der französische Jansenist Claude-Pierre Goujet (1697-1767) und der deutsche Lutheraner Ernst Friedrich Wernsdorf (1718-1782).
In der Moderne wird das Schicksal der Hypatia vornehmlich unter Gender-Gesichtspunkten rezipiert. Stellvertretend hierfür sei die Habilitationsschrift von Henriette Harich-Schwarzbauer genannt. Darin kommt die Autorin zu folgendem Urteil:
„Ihr Schicksal erscheint als Beispiel dafür, wie man mit der weiblichen Intellektualität und wie man mit weiblicher Autorschaft umzugehen pflegte. So wie Hypatias Leichnam zerstückelt wurde, so sei auch ihre Lebensleistung durch die Überlieferung zerstückelt worden. Sie der Vergessenheit zu überantworten, war Kalkül.“
Darüber hinaus diente die Geschichte der Hypatia als Inspiration für Romane, Gedichte, Opern und Theaterstücke. Auch der Film „Agora – Die Säulen des Himmels“ (2009) basiert lose auf dem Schicksal der antiken Philosophin. Sie steht heute sinnbildlich für die Verwerfungen des Fanatismus und der Intoleranz; insbesondere aber steht sie für das Jahrtausende lange Unrecht, das der weiblichen Hälfte der Menschheit angetan wurde und vielerorts immer noch angetan wird.
Verwandte Literatur:
Ich habe mich vornehmlich an Stephen Greenblatts „Die Wende. Wie die Renaissance begann“ und Manfred Clauss‘ „Alexandria. Schicksale einer antiken Weltstadt“ gehalten. Greenblatt konzentriert sich in seinem Pulitzerpreis-gekrönten Werk darauf, was am Ende der Antike alles verloren gegangen ist, beziehungswiese zur Zeit der Renaissance wiederentdeckt wurde. Clauss geht der Alexandrischen Stadtgeschichte quellengesättigt und dennoch anekdotenhaft nach und behandelt auch Hypatia ausführlich. Eine eigentliche Hypatia-Biografie gibt es nicht, und kann es aufgrund der spärlichen Quellenlage wohl auch nicht geben.
Eine extrem spannende Frau und ein äußerst spannendes Thema!
An der Verfilmung von 2009 hat mir sehr gut gefallen, dass sie mit dem Stereotyp vieler älterer Historienfilme bricht, in denen die Christen immer die Guten sind. Noch toller ist, dass der Film das macht, ohne in simple Schawarz-Weiß-Malerei abzudriften.
👍 …